Bei indigenen Völkern denken wir an die Ureinwohner des Amazonasgebiets, die Indianer Nordamerikas und die Eskimo-Völker (hier in aller Kürze zur Bezeichnung), die australischen Aborigines, die Inselvölker Südostasiens und die unzähligen ethnischen Gruppen Afrikas. Dann entschuldigen wir uns damit, dass Europa klein ist, weshalb uns wohl hier nur die Sámi einfallen. Immerhin. Mit den Sámi und ihren Sprachen eng verwandt sind zahlreiche indigene Völker und Sprachen in Sibirien. Um eine ganz bestimmte Gruppe von ihnen soll es hier gehen.

Die uralischen Sprachen – so nah und doch so fern

Der Norden Sibiriens könnte Pate gestanden haben für die Völker und Sprachen Tolkiens: Nganasanisch, Enzisch und Syrjänisch, Bergmari, Wiesenmari, Wald- und Tundra-Nenzisch gibt es da. Oder wie wäre es mit Udmurtisch, Ultschisch und Tschuwaschisch? Gesprochen werden all diese Sprachen in Russland, und doch haben sie nichts mit den slawischen Sprachen gemein. Sie sind uns trotzdem überraschend nah: Die großen Geschwister des Berg- und Wiesenmari, des Udmurtischen und des Syrjänischen heißen Finnisch, Estnisch und Ungarisch. Zusammen mit anderen indigenen Sprachen gehören sie zur finno-ugrischen Sprachfamilie. Die finno-ugrischen Sprachen bilden zusammen mit den samojedischen Sprachen Nganasan, Nenzisch, Enzisch und Selkupisch die große, eher unbekannte Familie der uralischen Sprachen.

Die Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den übrigen Sprachen, die es im unendlich weiten Sibirien außerhalb der uralischen Sprachfamilie gibt, sind teilweise unklar und umstritten. Ich beschränke mich also auf die recht klar umrissenen uralischen und dort speziell auf die samojedischen Sprachen.

Sprecherzahlen und geographische Einordnung

Die Sprecherzahlen der knapp zwanzig indigenen uralischen Sprachen bewegen sich zwischen jeweils rund 500.000 bis 600.000 für die größten Sprachen Mari, Udmurtisch und Komi – finno-ugrische Sprachen – und 800 bzw. höchstens 100 Sprechern für Nganasan und Enzisch. Letztgenannte gehören dem samojedischen Zweig an, um den es hier gehen soll. Vier Samojedische Sprachen gibt es heute noch (und jetzt empfehle ich Google-Maps aufzurufen oder einen Atlas aus dem Regal zu nehmen): Neben dem Nganasan und dem Enzischen auf der nordsibirischen Halbinsel Taimyr und an der Mündung des Jenissej ist auch das Selkupische weiter südlich am Jenissej mit rund 1.600 Sprechern nicht gerade optimal aufgestellt. Die größte samojedische Sprache und einzige Schriftsprache des Zweigs ist das Nenzische mit rund 24.000 Sprechern, die ein großes, nach Süden ausgedehntes Gebiet zwischen Kanin-, Jamal- und Taimyrhalbinsel bewohnen.

Seit den ersten Christianisierungsversuchen im 18. Jahrhundert bedrängt das Russische selbst im hohen Norden die indigenen Sprachen Sibiriens. Angesichts seiner Bedeutung und Allgegenwärtigkeit ist es erstaunlich und erfreulich, dass bei der letzten Volkszählung im Jahr 2010 etwa 83 Prozent der rund 1.000 Nganasanen die nganasanische Sprache als ihre Erstsprache nannten. Ähnliches gilt für die Nenzen, bei denen immerhin gut 77 Prozent das Nenzische als Erstsprache verwendeten (die Angaben zur Zahl der Sprecher schwanken allerdings je nach Quelle sehr stark). Nganasanen und Nenzen leben zum Teil noch halb- oder auch vollnomadisch hoch im Norden auf den Taimyr- und Jamalhalbinseln.

Die Zahl der Nganasanen mag mit 1.000 bis maximal 1.200 Menschen gering erscheinen. Ihre Zahl scheint jedoch seit dem Beginn systematischer Zählungen Ende der 1920er Jahre recht stabil geblieben zu sein. Nganasan gilt dennoch und zweifelsohne zurecht als stark gefährdete Sprache. Ohne diesen Status in Frage stellen zu wollen, wurde die vorsichtige Vermutung geäußert, die Zahl der Nganasanen auf der Taimyrhalbinsel könne eher Schwankungen als einem stetigen Rückgang unterliegen, da ihr Siedlungsgebiet – immerhin der nördlichste Festlandteil der Erde – bei nomadischer Lebensweise kaum mehr Menschen als Lebensgrundlage dienen könnte.

Die Lebensweise der Völker ist dem Fortbestand des Nganasan und auch des Nenzischen möglicherweise in zweierlei Hinsicht dienlich: Zum einen wird der Einfluss der russischen Kultur und Lebensweise und damit auch der Bedarf an Lehnwörtern und die Notwendigkeit der Übernahme fremder morphologischer und syntaktischer Strukturen gering gehalten. Zum anderen bleibt im Rahmen der traditionellen Lebensweise die Bedeutung des Nganasan und des Nenzischen als Verkehrs- und Umgangssprache erhalten. Man erkennt das, ihr erinnert euch, am hohen Anteil der Erstsprachenverwender.

Eine vergleichbare Stabilität ist den beiden anderen samojedischen Sprachen, Selkupisch und Enzisch, leider nicht beschieden. So hat bei den Selkupen das sesshafte Leben in stärker urbanisierten Gebieten samt Einbindung in die Lebenswelt der russischen Mehrheitsbevölkerung dazu geführt, dass nur knapp 50 % der Volksangehörigen das Selkupische als ihre Erstsprache angeben.

Wie werden indigene Sprachen erforscht?

Die uralischen Sprachen sind agglutinierend, das heißt, alle grammatikalischen Elemente werden in Form von meist einsilbigen Suffixen an den Wortstamm des sogenannten Basisworts angehängt. Ein Suffix reicht selten aus: Numerus, Kasus, Tempus, Possessiv, Demonstrativ, Diminutiv und Wortableitungen reihen sich in einer bestimmten Reihenfolge an das Basiswort. Interessant sind Suffixe, anhand derer ganze Aussagekategorien geändert werden. Mit Suffixableitungen kann man unter anderem ausdrücken:

  • „[etwas] jagen/sammeln“
  •  „[nach etwas] stinken“.

(Ersetzt in den Beispielen einfach [etwas] durch Hasen, Beeren oder Fisch.)

Mit einem Suffix kann man auf Basis von Nomen oder Adjektiven eine entsprechende Handlung ausdrücken:

  • Wasser [SUFFIX] -> nass machen
  • scharf [DASSELBE SUFFIX] -> schärfen.

Es gibt ein Suffix, das anzeigt „an diesen Ort gehen“:

  • Wald [SUFFIX] -> in den Wald gehen
  • das nächste Dorf [SUFFIX] -> ins nächste Dorf gehen.

Durch ein anderes Suffix entsteht

  • mit Bezug auf alles Essbare „[etwas] essen/trinken“
  • mit Bezug auf alles, womit man spielen kann „[mit etwas] spielen“.

Hier steht oft ein Suffix für ein ganzes Verb. Wie sehen in solchen Fällen wohl Gerundial- oder Modalkonstruktionen, Konditional- oder Relativsätze aus? Wenn man bedenkt, dass eine unerforschte indigene Sprache zu Anfang nichts weiter als eine Aneinanderkettung von Lauten ist, kann man sich vorstellen, vor welchen Herausforderungen der Sprachwissenschaftler steht (Alle, die mehr darüber wissen möchten, finden hier eine sehr gute Aufbereitung der Universität Hamburg).

Noch etwas kommt erschwerend hinzu: Phonetische Prozesse innerhalb der Wörter – Vokalharmonie genannt – verändern in allen uralischen Sprachen, auch in den samojedischen, die Erscheinungsform der Suffixe. Normalerweise ändert sich der Hauptvokal des einsilbigen Suffixes. Drücken also zwei ähnliche Silben in vergleichbarer Position in verschiedenen Wörtern je eine eigene grammatische Kategorie aus? Handelt es sich um die unterschiedliche Realisierung von Phonemen aufgrund der veränderten lautlichen Umgebung ganz ohne bedeutungsunterscheidende Funktion? Beruht der Unterschied auf individuellen Sprechweisen oder auf Unterschieden in der Transkription?

Die Sprecher, von denen man die Sprache hört, wissen so gut wie nichts über Konjugation, Deklination oder Satzglieder. Man kann einen Rentierhirten nicht fragen, wie man in seiner Sprache Konditionalsätze bildet und eine umfassende Antwort erwarten. Auch die Übersetzung von Beispielsätzen aus dem Russischen gibt oft nur begrenzt Aufschluss: Ihr erinnert euch an „[etwas] jagen/sammeln“ oder „[nach etwas] stinken“ – ein Suffix, das ein ganzes Verb ersetzt. Mit einem solchen Verbsuffix wird ein Konditionalsatz zwangsläufig anders konstruiert, als wenn das Verb als eigenes Basiswort vorliegt. Man muss mit den Leuten über Märchen, Sagen und Alltägliches sprechen, nach Nacherzählungen in Russischer Sprache fragen, so viel Material wie möglich sammeln und daraus Hypothesen zu sprachlichen Elementen und deren Funktion herausarbeiten. Dann erst kann man nach konkreten Beispielen suchen, um seine Hypothesen zu prüfen.

Mündliche Überlieferung – Ursprünge und Funktionen

Man hat mich nach Lesestoff, nach dem literarischen Schaffen gefragt. Sammlungen von Tiermärchen, Sagen und Ursprungsmythen liegen in russischer Sprache vor. Von unserer literarischen Gattung der Märchen sind sie jedoch weit entfernt. Der Begriff Literatur ist hier im Grunde nicht anwendbar, denn die Geschichten wurden nicht als Schriftwerke verfasst und auch die schriftliche Überlieferung hat für sie nie eine Rolle gespielt. Schriftliches Schaffen und Überlieferung sorgen aber immer auch für eine sprachliche Standardisierung und thematische Allgemeinverständlichkeit. All das trifft auf die mündliche Tradition der samojedischen Völker nicht zu. Sie dient dem Mitteilen von Vollbrachtem und Erlebtem, der Vermittlung gemeinsamer Werte und dem Zusammenhalt durch die Weitergabe von Gründungsmythen.

Ein Merkmal sind ausgedehnte Metaphern, die ohne Überleitung aus den Ereignissen des realen Handlungsstrangs hervorgehen. Eine Gruppe durchquert mit Pferden, Rentieren und Schlitten die Tundra. Ein Mann und eine Frau sehen zwei steile Berge mit einem Tal in der Mitte, in dem Spuren von Hasen und Rebhühnern zu erkennen sind und in dessen Mitte sich eine Blume im Wind wiegt. Was dem uneingeweihten Leser nicht bewusst ist: Berge, Blume und Spuren sind gar nicht da. Der Mann und die Frau sprechen mit einer uralten traditionellen Formel über sich selbst und ihre Unterhaltung. Die Berge, die sich wiegende Blume und die Spuren der Tiere stehen für die zwei Seiten des Schlittens, der die Frau wankend trägt und für das Gespräch, das sich zwischen ihr und dem Reiter entspinnt. Das mag poetisch klingen, verliert aber schnell seinen Reiz, wenn die Metapher nicht erkannt wird und die Erzählung ebenso unvermittelt in den realen Handlungsstrang  – zur wandernden Gruppe, die überhaupt keine Berge sieht – zurückkehrt. Berge, Blume und Spuren werden nicht mehr erwähnt und die Geschichte nimmt kurz darauf mit einer neuen Metapher eine weitere unverständliche Wendung. In den Metaphern entfaltet sich die gesellschaftliche und kulturelle Bedeutung dieser Geschichten.

Einen weiterer, uns sehr ferner Ursprung von Mythen und Geschichten in der mündlichen Tradition der Samojeden und anderer Völker Sibiriens ist der Schamanismus. Ein typischer Erzählfaden könnte so aussehen: Ein Mann läuft durch die Tundra, er ist auf dem Weg in ein weit entferntes Dorf. Plötzlich fliegt er, für uns ohne erfindlichen Grund. Vielleicht trifft er eine Widrigkeit und wird zum Helden, bevor er am Zielort ankommt. Vielleicht macht er aber auch an einem anderen Ort, einem besonders hohen Baum in den endlosen Mischwäldern Halt und läuft dann wieder los, fliegt vielleicht noch einmal, ohne dass andere Sonderlichkeiten geschehen. Am Zielort angekommen, liefert er seine Botschaft ab. Ende. Solche Geschichten und Elemente entstammen Schamanenreisen und werden über Jahrzehnte und Jahrhunderte überliefert. Die Geschichten und Mythen der samojedischen Völker erscheinen uns mit ihren oberflächlich zusammenhanglosen Elementen wirr und undurchsichtig. In unserer Lebenswelt und mit unseren Erwartungen an Handlungsstränge sagen sie uns ohne Fachkommentar wenig.

Ein sehr kurzes Fazit

Was bleibt zu sagen? Ich habe versucht, anhand eines konkreten Beispiels zu zeigen, wie unendlich vielfältig die Entwicklung des Systems Sprache verläuft. Das, was wir unter grammatikalischer Beschreibung einer Sprache ist im Grunde Linguistik als Naturwissenschaft. Die samojedischen Sprachen sind hier nur ein kleiner Ausschnitt dessen, was weltweit an indigenen Sprachschätzen für die meisten von uns verborgen bleibt. Außerdem lag mir am Herzen, einen Eindruck davon zu vermitteln, wie tief die Erforschung indigener Sprachen in die Tradition, Gesellschaft und Kultur wunderbarer Völker führt. Sie ermöglicht einen Einblick in uns oft völlig fremde Ausdrucksformen. Sie regt an zum Nachdenken über die Entwicklung und den heutigen Stand unserer Arbeitssprachen, und sie vermittelt eine Vorstellung von dem Kultur- und Lebensschatz, der mit einer Sprache untergehen kann.

DVÜD-Gastautorin Katja Brill hat vor ihrem Abschluss als Übersetzerin Sprachwissenschaften in Hamburg studiert. Sie lebt mit ihrer Familie in Italien und übersetzt in den Bereichen Medizin und Pharmazeutik aus dem Englischen und Italienischen ins Deutsche.

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