„Übersetzen Sie das einfach.“ Keine andere Bitte kann Übersetzer und Dolmetscher stärker irritieren als diese. Warum bitten wir keine Balletttänzerin „einfach zu tanzen“ und kein Orchestermitglied „einfach zu spielen“? In diesem Beitrag geht es darum, dass es unmöglich ist, „einfach zu übersetzen“ oder „einfach zu dolmetschen“.

Fünf Tänzerinnen in weißen Kostümen bei einer Ballett-Aufführung im Freien.
Bild:  Tim Gouw von StockSnap

Die Spitze des Eisbergs

Die Vorbereitung ist der Hauptteil der Arbeit beim Dolmetschen. Das gilt übrigens auch fürs Übersetzen. Beim Übersetzen spielt die Vorbereitung auch eine äußerst wichtige Rolle, der Auftraggeber bemerkt sie aber praktisch nie. Hinter den Kulissen bleiben ein langwieriger Suchprozess nach dem richtigen Fachbegriff, mehrere Korrekturschleifen und Editieren. In der Regel geht ein Kunde davon aus, dass Übersetzer:innen in dem Fachbereich kompetent sind, in dem sie übersetzen. In den meisten Fällen ist es auch so (nicht umsonst sprechen Übersetzer von ihrer „Spezialisierung“ oder ihrem „Fachbereich“). Doch auch wenn eine Übersetzerin in einem neuen Fachbereich zum ersten Mal übersetzt, bleibt die gesamte Recherche bei der Einarbeitung in das neue Thema während der schriftlichen Übersetzung für den Kunden unsichtbar. Dem Kunden wird ein fertiges Ergebnis geliefert, und wie man zu diesem Ergebnis kam – ob durch Studieren von Enzyklopädien und Nachschlagewerken, Recherche nach seltenen Begriffen oder durch einen Anruf bei einem erfahrenen Kollegen –, ist nicht bekannt und spielt für den Kunden letztendlich keine große Rolle.

Die Vorbereitung ist der Hauptteil der Arbeit beim Dolmetschen.

Beim Dolmetschen ist es oft unmöglich, mit demselben Thema häufig zu arbeiten. In der Regel unterscheiden sich die Themen beim Konferenzdolmetschen auch im Rahmen eines Fachbereiches sehr stark voneinander. Nehmen wir als Beispiel Medizin. Innerhalb dieses riesigen Themas gibt es Hunderte von Fachbereichen und Spezialisierungen, also alles, was zum Beispiel einen Orthopäden auf die Palme bringt, wenn Verwandte ihn über die Zahnmedizin befragen. Die Vorstellung eines Kunden über die Arbeit der Dolmetscher:innen ist auch eher oberflächlich: wenn eine Person die Sprache spricht, dann sollte sie doch imstande sein, durch eine Übertragung (oder Über-Setzung) der Wörter einer Sprache in die Wörter einer anderen Sprache das gewünschte Ergebnis zu erreichen. Fehlanzeige! Den Grund dafür können einige Beispiele veranschaulichen.

Übungen an der Stange

Bekanntlich ist Balletttanz ein enorm schwieriger, physisch anstrengender Beruf, der nicht für alle geeignet ist. Neben der natürlichen Begabung sind regelmäßige, harte und buchstäblich schweißtreibende Übungen an der Stange erforderlich. Wenn jemand eine Ballerina bitten würde, auf Spitzen zu tanzen oder ein paar Fouettés zu drehen – einfach, um ihr Können zu bewundern –, wäre das noch okay. Man würde aber nie auf die Idee kommen, diese Tänzerin zu bitten, alleine die ganze Choreographie vorzutanzen.

Schlimmer sieht es mit den Musikern aus, die häufiger gebeten werden „etwas vorzuspielen“. Dabei werden solche Bitten an Gitarristen, Violinistinnen oder Pianistinnen, also Solomusiker, häufiger herangetragen als an Orchestermusiker oder gar Dirigenten. Niemand würde auf die Idee kommen, einen Dirigenten zu bitten: „Spielen Sie, mein Lieber, uns Symphonie Nummer so und so vor. Es ist ja so interessant zu hören, was Sie so im Orchester machen.“ Schließlich brauchen alle Beteiligten sowohl für das ganze Orchesterstück als auch für jeden Solopart eine mehrstündige und oft mehrtägige Vorbereitung. Sehr bekannt ist eine Aussage, die mal Svyatoslav Richter, mal anderen Musikern zugeschrieben wird: „Wenn ich einen Tag nicht übe, merke ich es. Übe ich zwei Tage lange nicht, merken es meine Kritiker. Wenn ich drei Tage aussetze, merkt es das Publikum.“ Ähnlich ist das im Sport: Alle wissen, dass Sportprofis täglich stundenlang trainieren. Eiserne Disziplin, kein Schwänzen von Trainingseinheiten.

Dolmetschen unterscheidet sich kaum von den oben genannten Beispielen. Das Wesentliche beim Dolmetschen ist nicht so sehr die Arbeit während der Veranstaltung, sondern vielmehr die Vorbereitung darauf. Unsere Übungen „an der Stange“ sind: Recherche und Verarbeitung der Informationen, Glossare zusammenstellen – erst danach kommt das Auswendiglernen der Vokabeln überhaupt in Frage. Die Vorbereitung nimmt fast die ganze Zeit und Kräfte eines Dolmetschers in Anspruch. Der Kunde kann (und muss) dies jedoch nicht wissen. Daher die immer wiederkehrende Forderungen des Dolmetschers, alle Materialien so früh wie möglich im voraus bereitzustellen. Wie beim Übersetzen verlässt sich der Kunde darauf, dass er am Ende das fertige Ergebnis erhält – das erstklassige Dolmetschen auf einer Veranstaltung – und dies ist nachvollziehbar.

Jeder Cent des Honorars eines Simultandolmetschers wird an der „Dolmetscherstange“ erarbeitet.

Dass „nur ein paar Fouettés zu drehen“ nicht einer anderthalbstündigen Aufführung entspricht, wird am Beispiel des Balletts besonders deutlich. Dolmetscher arbeiten jedoch nicht immer nur anderthalb Stunden. Manchmal muss man mehr als fünf Stunden dolmetschen, manchmal alle acht (hier müssen wir über den zweiten Dolmetscher reden, aber dies ist ein anderes Thema). Selbst für eineinhalb Stunden Dolmetschen, zum Beispiel beim Notar, kann die Vorbereitung zwei bis drei Tage dauern. Daher nehmen professionelle Dolmetscher lieber keine dringenden Aufträge an („Wir brauchen einen Dolmetscher für einen Termin beim Notar. Der Termin ist morgen.“), da sie wissen, dass sie die Qualität des Dolmetschens nicht sicherstellen und den Kunden dadurch im Stich lassen könnten. Alternativ kommen leider oft Laien zum Einsatz – dann trägt der Kunde alle Konsequenzen einer nicht korrekten Übersetzung. Darüber hinaus ist es unwahrscheinlich, dass der Kunde auf Anhieb imstande ist, die fehlerhafte Arbeit eines Laiendolmetschers zu bemerken. Die Folgen einer Verwendung von “fast richtigen” Formulierungen im Rechtsbereich bleiben zunächst unauffällig und kommen nicht gleich ans Licht.

Hohe Honorare für das Konferenzdolmetschen

Profis wissen, dass Simultandolmetschen unter allen Sprachdienstleistungen am kostspieligsten ist. Das Geheimnis derart hoher Honorare liegt – wie beim Ballett – nicht nur in der persönlichen Begabung eines Profis, sondern auch darin, dass man sich auf eine „Aufführung“ lange vorbereitet. Gleiches gilt jedoch auch für das Konsekutivdolmetschen. Hier muss die dolmetschende Person außerdem ihr Kurzzeitgedächtnis trainieren. Unsere Kundschaft, die nicht den gesamten Eisberg der mehrtägigen Vorbereitungen (gründliches Einstudieren der Themen, Gedächtnistraining, Auswendiglernen von Vokabeln) sieht, ist angesichts hoher Honorare für das Dolmetschen mitunter irritiert. Professionelle Konferenzorganisatoren sind mit diesem Thema vertraut, aber manchmal dolmetscht man auch für Privatkunden. Und in diesem Moment erklären Dolmetscher, dass ein hohes Honorar in der Tat gerechtfertigt ist. Man bezahlt schließlich auch für die Vorbereitungszeit und nicht nur für die tatsächliche Zeit der Arbeit bei der Veranstaltung.

Professionelle Dolmetscher müssen somit erklären, dass das Dolmetschen „ohne Proben und Übungen an der Stange“ praktisch ein garantierter Misserfolg für die “Aufführung” bedeutet. Eine Medizinübersetzerin muss vermitteln, dass das Dolmetschen bei einer technischen Veranstaltung dem Bestreben gleicht, „in drei Tagen Ingenieurin zu werden“ – und es ist besser, dafür eine Dolmetscherin mit einer entsprechenden Spezialisierung zu finden und zu beauftragen. Technische Übersetzer können und wollen ebenso nicht unbedingt dolmetschen. Alle diese Faktoren beeinflussen die Höhe des Dolmetscherhonorars. Im Allgemeinen entsteht das Honorar für professionelles Dolmetschen nicht aus dem Blauen heraus – und es wächst nicht aus Geiz und Gier der Dolmetscher (“Jetzt verdiene ich mir die goldene Nase mit meinen ahnungslosen Kunden”). Jeder Cent des Honorars eines Simultandolmetschers wird an der „Dolmetscherstange“ erarbeitet.

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