Die UNO hat 2019 zum Jahr der Indigenen Sprachen erklärt. Daran angelehnt geht es auch am Internationalen Übersetzertag am 30. September um das Übersetzen in und aus indigenen Sprachen. Wir haben uns gefragt, ob es auch in Deutschland noch indigene Sprachen gibt – könnte man beispielsweise Nordfriesisch oder Sorbisch als indigen einstufen? Wo ist der Unterschied zur Minderheitensprache (wie Dänisch in Schleswig-Holstein)?

Eine Definition der Vereinten Nationen beschreibt als Kriterien für „indigen“: Historische Kontinuität (territoriale Bindung), Marginalität (heutige Randstellung wegen Besiedlung/Eroberung von außen), kulturelle Distanzierung von der dominanten Kultur des Staates (eigene Kultur, eigene Organisationsformen), Selbstidentifikation.

DVÜD-Mitglied Judith Wenk ist häufig in der Oberlausitz unterwegs und hat unserer Redakteurin Imke Brodersen einige Fragen beantwortet.

Wo spricht man Sorbisch?

Städtenamen wie Dresden (Drježdźany) oder Kamenz (Kamjenc) bieten erste Hinweise, wo das Sorbische zu finden ist. Denn die Namen dieser Städte, wie die vieler weiterer in der Region, sind sorbischen Ursprungs. An ihrer sorbischen Verbindung kann man auch erkennen, wie die Orte zu ihren Namen kamen. Diese wurden nämlich meistens von für den jeweiligen Ort typischen geografischen Merkmalen abgeleitet: Drježdźany – Altsorbisch Drežďany für Sumpf- oder Auwaldbewohner; Kamjenc – kamjeń ist das obersorbische Wort für Stein.

Heute wird Sorbisch vor allem noch in den Dörfern rundum Kamenz gesprochen. Wenn man zwischen Dresden und Bautzen die A4 an der Ausfahrt Uhyst verlässt, gelangt man innerhalb von rund zehn Minuten nach Crostwitz – eines der größeren Dörfer, wo noch überwiegend Sorbisch gesprochen wird und auch alle zwei Jahre das Internationale Folklorefestival stattfindet.


Nun stellt man sich beim Lesen vielleicht die Frage, wie es kommt, dass ich gar nicht den Spreewald erwähnt habe. Das liegt daran, dass historisch in Brandenburg genau genommen die Niedersorben und in Sachsen die Obersorben zu Hause sind. In der brandenburgischen Niederlausitz wird deswegen auch überwiegend Niedersorbisch gesprochen, welches mit dem Polnischen verwandt ist, während man sich in der sächsischen Oberlausitz auf Obersorbisch unterhält, welches viele Gemeinsamkeiten mit dem Tschechischen und Slowakischen aufweist. Beide Sprachen gehören entsprechend zur Familie der westslawischen Sprachen. Wenn von „Wendisch“ die Rede ist, ist damit meist in erster Linie das Niedersorbische gemeint.

Aktuell leben die meisten Sprecher beider Sprachen in den genannten Regionen in der Nieder- und Oberlausitz. Eine Karte der heutigen Siedlungsgebiete ist beispielsweise auf Wikipedia abrufbar:
https://de.wikipedia.org/wiki/Sorbisches_Siedlungsgebiet. Allerdings ist es so, dass die Wahrscheinlichkeit, auf der Straße jemanden Sorbisch sprechen zu hören, in Bautzen (auch „Hauptstadt“ der Sorben genannt) und v. a. in den Dörfern in der Nähe von Kamenz, also der Oberlausitz, wesentlich höher ist als in der Niederlausitz. In Zahlen ausgedrückt heißt das, dass in Sachsen nach letzten Erhebungen ca. 40.000 und in Brandenburg ca. 20.000 Sorben leben; von diesen insgesamt rund 60.000 Personen sprechen ungefähr noch 20.000-30.000 Sorbisch. (siehe PDF der Gesellschaft für bedrohte Völker, S. 59).

Sowohl in der brandenburgischen als auch der sächsischen Landesverfassung sind die Sorben als Minderheit anerkannt, sodass es in beiden Regionen Schulen/Kindergärten, kulturelle Einrichtungen und Institutionen gibt, wo die sorbische Sprache bzw. der Spracherhalt im Vordergrund steht.

Wer sind die Sorben?

Zusammen bilden die Ober- und Niedersorben als „die Sorben“ – neben den Minderheiten der Dänen, Sinti und Roma sowie Friesen – eine von vier in Deutschland lebenden und offiziell anerkannten Minderheiten (siehe PDF zu Sprachenvielfalt in Europa, S. 6). Die Geschichte der Sorben reicht bis ins sechste Jahrhundert zurück. Diese kann z. B. hier und an vielen anderen Stellen im Internet nachgelesen werden.

In Bezug auf das Thema indigene Sprache und somit auch in Hinblick auf deine nächste Frage, Imke, ist aus meiner Sicht interessanter, dass die genannten vier Minderheiten auch als sogenannte „autochtone Minderheiten“ und entsprechend auch die Sprachen als „autochtone Sprachen“ bezeichnet werden. In diesem Zusammenhang wird „autochton“ auf Seite 6 in der CHARTA der autochthonen, nationalen Minderheiten / Volksgruppen in Europa wie folgt definiert.

„Zu den autochthonen, nationalen Minderheiten/Volksgruppen zählen die durch die Auswirkungen der europäischen Geschichte, durch Grenzziehungen und andere historische Ereignisse entstandenen nationalen Minderheiten/Volksgruppen sowie die Völker Europas, die nie einen eigenen Staat gegründet haben und auf dem Territorium eines Staates als Minderheit leben.“

Charta der autochthonen nationalen Minderheiten / Volksgruppen in Europa

Interessant ist folgender Satz, der auf der gleichen Seite folgt:

„Eine verbindliche Definition ist von Bedeutung, da nur eine definierte Gruppe, Rechte kollektiv in Anspruch nehmen kann.“

Aus diesem Grund wurden in der Charta folgende Bedingungen aufgestellt (auch S. 6):

„Unter einer autochthonen, nationalen Minderheit / Volksgruppe ist eine Gemeinschaft zu verstehen,

  1. die im Gebiet eines Staates geschlossen oder in Streulage siedelt.
  2. die zahlenmäßig kleiner ist als die übrige Bevölkerung des Staates.
  3. deren Angehörige Bürger dieses Staates sind.
  4. deren Angehörige über Generationen und beständig in dem betreffenden Gebiet ansässig sind.
  5. die durch ethnische, sprachliche oder kulturelle Merkmale von den übrigen Staatsbürgern unterschieden werden können und gewillt sind, diese Eigenarten zu bewahren.”

Auf die Sinti und Roma trifft die erste Bedingung aus historischen Gründen nicht zu. Sie sind aber dennoch als autochthone Minderheit in Deutschland anerkannt.

In Wörterbüchern fällt die Definition kürzer aus. Im Duden wird „autochthon“ z. B. als

1. einheimisch (von Völkern oder Stämmen) eingeboren, einheimisch, indigen [Gebrauch: Völkerkunde]

2. (von Tieren, Pflanzen, Gesteinen) am Fundort vorkommend [Gebrauch: Biologie, Geologie]

definiert. Daran kann man gut erkennen, dass der örtliche Bezug eine tragende Rolle spielt.

Welche Kriterien für eine indigene Sprache lassen sich auf Sorbisch anwenden?

Aus der Definition im Duden kann man schon entnehmen, dass die Begriffe „autochton“ und „indigen“ inhaltlich eine ähnliche Bedeutung haben. Auch die Kriterien für „indigene“ Sprachen aus der Definition der Vereinten Nationen, die du eingangs genannt hast, Imke,

  • Historische Kontinuität (territoriale Bindung),
  • Marginalität (heutige Randstellung wegen Besiedlung/Eroberung von außen),
  • kulturelle Distanzierung von der dominanten Kultur des Staates (eigene Kultur, eigene Organisationsformen),
  • Selbstidentifikation

decken sich meiner Ansicht nach mit den Kriterien, die in der CHARTA der autochthonen, nationalen Minderheiten / Volksgruppen in Europa für autochthone Minderheiten genannt werden.

Eine etwas detailliertere Begründung, warum man das Sorbische auch als „indigen“ klassifizieren könnte, liefert Heiko Kosel in diesem PDF (S. 37-40).

Was könnte die konsequente Anwendung des Kriteriums „indigen“ für heutige Sorben bedeuten?

In der CHARTA der autochthonen, nationalen Minderheiten / Volksgruppen in Europa geht es darum, dass an die Anerkennung als autochthone, nationale Minderheit bestimmte Rechte geknüpft werden. Gleichermaßen gibt es auch internationale Abkommen, die „indigenen“ Volksgruppen bestimmte Rechte zuerkennen. Einen Überblick dazu kann man sich z. B. auf der Website der Bundeszentrale für politische Bildung verschaffen.

Eines dieser Abkommen ist das ILO-Übereinkommen, auf welches Heiko Kosel Bezug nimmt und welches 1991 in Kraft getreten ist. Bisher wurde dieses Abkommen von Deutschland noch nicht ratifiziert. Die Unterzeichnung ist 2012 vom Bundestag abgelehnt worden. Die Pressemitteilung legt nahe, dass eine Ratifikation mit Haftungsrisiken für deutsche Unternehmen einhergehen würde.

Dies würde z. B. beim Abbau von Bodenschätzen im Siedlungsgebiet von indigenen Völkern durch deutsche Unternehmen eine Rolle spielen (siehe Teil II. Grund und Boden des ILO-Übereinkommens). In Bezug auf die Sorben wäre dies u. a. in Hinblick auf den Braunkohleabbau in der Niederlausitz von Bedeutung.

Die Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte der indigenen Völker (UN-Resolution von 2007, 61/295) sieht zudem auch Entschädigungsrechte im Falle von Enteignung vor, ist aber ebenfalls – als „bloße“ Deklaration – rechtlich nicht verbindlich (Link zu FAQ-PDF).

Weitere ins Auge fallende Punkte wären die Ausgestaltung des Schulwesens – unter Berücksichtigung der genannten Abkommen wäre es vielleicht nicht zur Schließung der Crostwitzer Mittelschule im Jahr 2003 gekommen bzw. eine Abweichung von den in Sachsen geltenden Mindestschülerzahlen gestattet worden – und der Mitspracherechte bei diversen politischen Entscheidungen, die die Ober- und Niederlausitz so wie die dort lebenden Sorben betreffen.

Aktuell bilden auf europäischer Ebene das Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten und die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen die rechtlich verbindliche Grundlage für den Schutz der sorbischen Minderheit. Die gesetzliche Grundlage in Deutschland bildet v. a. die Verankerung verschiedener Rechte in den Landesverfassungen von Brandenburg und Sachsen, die landläufig auch als „Sorbengesetze“ bekannt sind.

Eine Schwierigkeit bei der Durchsetzung all dieser Rechte – auch denen, die schon verbindlich zugesichert sind – besteht darin, dass diese nicht von der Gemeinschaft eingeklagt werden können. Der Klageweg steht nur jedem einzelnen Angehörigen der Minderheit offen. D. h., obwohl die Domowina als politisch unabhängiger und selbstständiger Bund der Sorben/Wenden und Dachverband sorbischer Vereine der Ober- und Niederlausitz als Interessenvertreterin des sorbischen Volkes fungiert, kann der Domowina-Verband beispielsweise nicht gegen die Schließung von sorbischen Schulen klagen.

Ein weiteres Problem besteht darin, dass jeder Minderheit letztlich eine Mehrheit gegenübersteht und beide Seiten nicht zwangsweise die gleichen Interessen haben. Damit hängt auch die Umsetzung von rechtlich verbrieftem Minderheitenschutz in letzter Konsequenz immer vom Wohlwollen der Mehrheit ab. Hinzu kommt, dass den Angehörigen der Mehrheit zudem die Interessen der Minderheit auch nicht zwangsläufig bewusst sind, weil sie schlicht nicht von deren spezifischen Problemen betroffen sind. Schon allein solch ein fehlendes Bewusstsein wirkt sich auch erschwerend auf die Umsetzung aus.

Sorbische Literatur: Mehr als „Krabat“?

„Krabat“ ist sicherlich vielen ein Begriff. Im Gegensatz zum Deutschen ist dieser Name im Sorbischen jedoch eng mit dem Namen des sorbischen Schriftstellers Jurij Brězan verknüpft und nicht mit der Erzählung von Otfried Preußler. Darüber hinaus gibt es jedoch noch einiges mehr. Sogar fast noch bekannter ist in der Lausitz die Bearbeitung Mišter Krabat, geschrieben und illustriert von Měrćin Nowak-Njechorński.

Als Einstieg in die sorbische Literatur empfiehlt sich z. B. Serbska čitanka – Sorbisches Lesebuch von Kito Lorenc. So wie viele andere sorbische Autoren war er übrigens auch als Übersetzer tätig und hat so dazu beigetragen, sorbische Lyrik und Prosa auch dem deutschen Publikum zugänglich zu machen.

Róža Domašcyna, Preisträgerin des Sächsischen Literaturpreise 2018, dichtet und schreibt ebenfalls auf Sorbisch und Deutsch und übersetzt u. a. auch aus dem Slowakischen. Des Weiteren wären da noch Jurij Koch, Benedikt Dyrlich, Handrij Zejler und viele mehr. Viele Werke von sorbischen Dichtern und Autorinnen sind im Domowina-Verlag erschienen: https://www.domowina-verlag.de/ Wer lieber offline stöbert, hat dazu in der Smoler‘schen Verlagsbuchhandlung in Bautzen Gelegenheit.

DVÜD-Gastautorin Judith Wenk lebt in Dresden und übersetzt Texte aus der Wirtschaft für die Wirtschaft sowie Publikationen aus dem Bereich der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Ihre Arbeitssprachen sind Deutsch und Englisch. In ihrer Familie wird zum Teil auch Sorbisch gesprochen und im Urlaub manchmal auch Französisch.

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