Ein Gastartikel von Sarah Riehle

Spätestens wenn Imke, die seit mehreren Jahren die Teilnahme der Mitglieder der Kompetenzgruppe Medizin im DVÜD und anderer Medizinübersetzerinnen am Ärztekongress Stuttgart organisiert, Mitte Dezember des Vorjahres die Anmeldung freigibt, packen mich angesichts von Reiseorganisation, Vortragspuzzle und Erlebbarem Aufregung und Vorfreude. Vom 07. bis 09. Februar 2020 war ich zum zweiten Mal dabei.

Schwerpunkte setzen angesichts komplexer Erkrankungsbilder

Obwohl meine Spezialisierungen auf Neurologie, Barrierefreiheit und inklusive Sprache die Richtung recht klar vorzugeben scheinen, gerate ich in der Planungsphase in den Konflikt, außerdem orthopädische, urologische, gastroenterologische und ernährungs- oder suchtwissenschaftliche Vorträge anhören zu wollen.

Der Grund liegt auf der Hand: Bei vielen neurologischen Erkrankungen und Behinderungen, die je nach Art und Ausprägung medikamentenpflichtig machen, treten in allen genannten Bereichen Problemstellungen auf. Durch eine adäquat eingestellte Ernährung können unerwünschte Wechselwirkungen in gewissem Rahmen gesteuert, das heißt, zumindest gemildert und bestenfalls eliminiert werden.

Mein persönlicher Favorit: Autismus

Der Magnet schlechthin war für mich dieses Jahr ein Vortragsensemble über ,,Autismus‑Spektrum-Störungen im Kindes- und Jugendalter“ (ASS). Noch bevor es überhaupt begann, war spürbar: Dr. Barth und seine Mitarbeiterinnen von der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universitätsklinik Tübingen brennen für die Arbeit mit und für Menschen mit Autismus. Aufgrund des nicht zuletzt aus ihrer Erfahrung resultierenden Wissens und ihrer Einstellung waren sie ebenso in der Lage wie bereit, spontan auftretende Herausforderungen unkonventionell zu lösen. Gelebte Inklusion ohne viele Worte, wie ich sie seit Jahren ansonsten nur von meinen Übersetzer- und Dolmetscherkolleg*innen kenne und liebe.

Der Titel versprach viel und hielt es auch. Ob Geschichte, aktueller Stand der Autismusforschung oder alters-, erkrankungs- und zielgruppengerechte Diagnose- und Therapiekonzepte: Vom Baby übers Kleinkind, Kindergarten- und Schulkind bis hin zum Erwachsenen. Sich beständig weiterentwickelnde Gruppenangebote und natürlich Austauschmöglichkeiten für die Familie, auch über den Tellerrand Europas hinaus.

Ein toller Gesamtüberblick, der vor allem vermittelte, dass Menschen mit Autismus nicht die vielbeschriebenen sonderlichen Einzelgänger sind sondern Menschen wie du und ich, die (entgegen der landläufigen Meinung) durchaus andere Menschen mögen und vielschichtige Gefühle und Begabungen jenseits von Wut und scheinbar versessenem Aufsaugen von Zahlen sowie Algorithmen haben. All das äußert sich – nicht zuletzt aufgrund stark unterschiedlicher Ausprägung von sozialen und kommunikativen Fähigkeiten – bei jedem und jeder Einzelnen anders: ,,Kennt man einen Autisten, kennt man EINEN Autisten.“ Und autistische Menschen sind, jeder für sich, unter allen Umständen genau richtig und großartig, wie sie sind.

Inklusion auf allen Ebenen

Nicht nur in Deutschland sind kurz- bis mittelfristige Gesellschaftsentwicklungen nötig bzw. verpflichtend, die unter anderem durch solche interessanten wie lehrreichen Vorträge angestoßen werden und dafür sorgen (um mit einem kürzlich in meinem LinkedIn-Netzwerk gelesenen und übertragenen Spruch zu schließen), ,,dass sich Menschen mit Autismus nie dafür entschuldigen müssen sollten, dass sie sich wie autistische Personen benehmen.“

Den Ärztekongress werde ich in jedem Fall wieder besuchen. Ein Grund sind so interessante Vorträge wie der oben beschriebene. Die schönen Zusammenkünfte, netten Kontakte mit den Kolleginnen und der informative Austausch runden ihn so richtig ab.

Zufriedene Teilnehmerin mit Teilnahmeausweis und Rollstuhl
Fortbildung auf dem Ärztekongress

Die berufliche Laufbahn von DVÜD-Gastautorin Sarah Riehle begann in der Logistikbranche, wo sie im Logistikprojektmanagement für Klienten ihre Flexibilität erprobte. Hinzu kamen später Einblicke in die pharmazeutische Übersetzungsindustrie. Medizin- und lösungsorientiert arbeitet sie seit 2016 als Fachübersetzerin für Neurologie und Barrierefreiheit, zumeist in der Sprachrichtung EN>DE. Sie erstellt Fachübersetzungen, Fachlektorate sowie literarische Texte, die die Welt ein Stück besser machen, und achtet ganz besonders auf sprachliche Inklusion. Sarah ist seit 2015 Mitglied im DVÜD.

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