Auf der European Conference on Literary Translation (Rencontres européennes de la traduction littéraire) in Straßburg, Unesco-Welthauptstadt des Buches 2024, war das Sprachgewirr Anfang Oktober faszinierend. Eingeladen hatte die CEATL (Conseil Européen des Associations de Traducteurs Littéraires) als Dachverband der Literaturübersetzerverbände; Tagungsort waren Säle und Räumlichkeiten des Europaparlaments – für Übersetzer natürlich ein Highlight! Insgesamt waren rund 300 Teilnehmende vor Ort, circa 1.200 weitere hatten sich online zugeschaltet.

Aufgrund der Vielzahl der dort angesprochenen Themen geht es in diesem ersten Blog-Beitrag um inhaltliche Aspekte des Literaturübersetzens. Weitere Beiträge werden interessante Initiativen, Berufsaussichten und praktische Aspekte behandeln.

Was bedeutet es, übersetzt zu werden?

Zur Auftaktveranstaltung am Vorabend gab es ein unterhaltsames Gespräch zwischen dem bulgarischen Schriftsteller Georgi Gospodinov mit seinen Übersetzerinnen ins Polnische, Albanische, Französische, Spanische und Englische. Zusammen mit Angela Rodel, seiner Englisch-Übersetzerin erhielt Gospodinov für „Time Shelter“ den Booker Prize international 2023. Er bezeichnet seine Übersetzerinnen ausdrücklich als Co-Autorinnen und legt anderen Autoren ans Herz:  „Traue keiner Übersetzerin, die keine Fragen stellt.“

CEATL-Konferenz in Straßburg: Gospodinov auf der Bühne mit 5 Übersetzerinnen, alle halten ein aufgeschlagenes Buch in der Hand. (2.10.2024)
Georgy Gospodinov mit Magdalena Pytlak, Marie Vrinat-Nikolov, María Vútova, Angela Rodel und Milena Selimi – alle lesen gleichzeitig denselben Satz in ihrer Sprache (Foto: Imke Brodersen)

Der erste Tag der Konferenz begann mit der Schweizer Autorin Melinda Nadj Abonji – geboren in Jugoslawien, verschlug es sie als Teil der ungarischen Minderheit des heutigen Serbiens schon als Kind in die deutschsprachige Schweiz, und sie unterhielt sich mit Tanja Petrič, Präsidentin des Slowenischen Literaturübersetzerverbands (DSKP), auf Deutsch über ihre Perspektive als Schriftstellerin, deren Werke in andere Sprachen übersetzt werden. Abonji forderte ausdrücklich, dass Autorinnen und Übersetzerinnen „als sprachsensible Menschen“ intervenieren müssen, wenn die Politik Begriffe verallgemeinert, simplifiziert oder bewusst mehrdeutig formuliert. Genau an diesem Punkt beginnt unsere Arbeit, denn: „Es gibt keine neutrale Sprache, es gibt keine neutralen Begriffe.“

Originalgetreu oder für den Zeitgeist übersetzen?

Man konnte jeweils nur an einem Workshop teilnehmen. Heiß diskutiert war beispielsweise das Thema von Johanna Hedenberg (Italienisch>Schwedisch) und Elżbieta Kalinowska (Deutsch>Polnisch). Dort ging es um Sensitivity Reading, Selbstzensur und Inklusivität: Wie sollen wir beim Übersetzen mit Rassismus, Ableismus und Schimpfwörtern, Tabus und kontroversen Themen umgehen? Sollen verletzende Begriffe, die heute aus gutem Grund nicht mehr benutzt werden, über Übersetzungen erneut in den Sprachgebrauch gelangen? Wann und mit welcher Motivation dürfen wir beim Übersetzen eingreifen (oder eben nicht)?

Wie so häufig waren die Ansichten kontrovers und gingen teilweise auch aus sprachlichen Gründen auseinander. Die Teilnehmenden verwiesen auf den gesellschaftlichen bzw. historischen Kontext, Autor, Zielgruppe, sprachliche Möglichkeiten, die Entstehungszeit des Werks und vieles mehr. Übersetzen kann und soll auch Diskussionen in Gang setzen. Wenn das Publikum ein Buch ablehnt, weil die Vorstellungen oder die sprachliche Gestaltung von Autor oder Autorin irritieren, ist das ehrlicher, als wenn durch glättende Übersetzungen beispielsweise Rassismus, Misogynie oder sexuelle Inhalte, die im Werk dargestellt werden, abgemildert oder gar herausoperiert werden. Das ist finanziell riskant, gehört jedoch ebenfalls zur Freiheit des Wortes.

In diesem Workshop schälte sich deutlich heraus, was die polnische Literaturübersetzerin Magda Heydel schon in ihrer Keynote zum Auftakt betonte: „Übersetzen ist emotionale Arbeit.“ Mitunter, wenn wir mit Inhalt oder Sprache hadern, ist diese Arbeit eine Zumutung für die persönlichen Wertvorstellungen – die wir möglichst werkgetreu an die Lesenden weiterreichen. Denn wer sich in der Rolle als Co-Autor über das Original hinwegsetzt, erzählt eine andere Geschichte als die des Originalautors und gerät in den Bereich der Nachdichtung.

Echte Zensur: #FreeAllWords

Ein völlig anderer Blickwinkel kam in anderen Diskussionen zum Tragen, besonders im Panel „Übersetzen und Publizieren als politischer Akt“, moderiert von Justyna Czechowska, Vizepräsidentin der CEATL. Hier ging es um verbotene oder nur schwer erhältliche Inhalte und Bücher in Ungarn, Belarus, der Türkei, Russland sowie die Situation von Autoren, Übersetzern, Verlagen und (Schul-)Bibliotheken in vielen Ländern auf der Welt. Wer mehr wissen will, sollte sich mit dem Projekt #FreeAllWords des European Writers‘ Council (EWC) befassen, das in erster Linie Autorinnen und Autoren aus Belarus und der Ukraine in viele europäische Sprachen übersetzt und sie unterstützt. Czechowska fasste Zensur sinngemäß so zusammen: „Wer Bücher verbietet, beraubt die Öffentlichkeit ihres kulturellen Erbes.“ Und dieses kulturelle Erbe wird auch durch Übersetzungen weitergetragen.

Teils im Plenum, teils in den Gängen wurde in diesem Zusammenhang die Frage der Zensur umgekehrt gestellt: Wenn wir wirklich alles verbreiten, was das Grundgesetz oder Landesgesetze jeweils gerade noch als Kunstfreiheit billigen, landen wir am Ende bei Karl Poppers Toleranz-Paradoxon. Denn auch faschistisches Gedankengut zählt in Europa zum kulturellen Erbe, und ultrarechte Regierungen brauchen die Kunstfreiheit nicht unbedingt gesetzlich einzuschränken – oft reichen schon gezielte Mittelkürzungen.

Als Koordinatorin der Konferenz appellierte Cécile Deniard angesichts dieses Dilemmas in ihrem Schlusswort: „Kultur verhindert keine Barbarei. (…) Aber sie ist das Mittel, die Lampe am Brennen zu halten (…) Jeder muss seinen Weg des Widerstands finden, damit am Ende das Gerechte, das Wahre und Schöne und Wahre.“

Konferenz online anschauen

Wer die Konferenz verpasst hat, kann inzwischen Aufzeichnungen online ansehen: Die Präsentationen und Panels sind inzwischen auf YouTube hinterlegt. Die Links findet ihr auf der Website des Veranstalters https://www.ceatl.eu/achievements/strasbourg-conference – erst die Sprache wählen (Deutsch, Englisch, Französisch), dann kommt ihr weiter. Es lohnt sich!

Ein heißer Dank geht an all die Sponsoren, darunter das gastfreundliche Strasbourg, das ein schnell ausgebuchtes Rahmenprogramm ermöglichte, das Europäische Parlament, die EU, der Deutsche Übersetzerfonds DÜF, die VG-Wort und die FIT Europe, um nur einige wenige zu nennen, an den DVÜD, der mich als Delegierte zu diesem inspirierenden Event abordnete. Bei den Begegnungen mit Kolleginnen und Kollegen aus so vielen Ländern („Rencontres européennes“ im besten Sinne des Wortes) vergingen die Abende wie im Flug.

CEATL-Konferenz im Plenarsaal des EU-Parlaments, Oktober 2024 (Foto: Imke Brodersen)

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