Unternehmer-Power: im Einklang mit dem Chaos

Schwarzer Schwan auf einem See
Photo by Kacper Chrzanowski on Unsplash

Als wir für die DVÜD-Themenwoche das Motto „Selbst und beständig“ festlegten, wusste ich ganz genau, welchen Beitrag ich dazu schreiben könnte. Wegen der schwierigen wirtschaftlichen Situation war es irgendwie nicht logisch, einen Artikel über Selbstständigkeit und Gründen zu schreiben. Jedoch möchte ich angehenden Übersetzern und Unternehmern vor Augen führen, dass sich Unternehmertum besonders in Krisenzeiten von seiner ungewöhnlichen Seite zeigen kann.

Ein schwarzer Schwan und ein  Unternehmer, der keine Risiken mag

Kennen Sie Nassim Nicholas Talebs Buch „Der Schwarze Schwan: Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse“[1]?  In diesem Buch beschreibt der Autor die unvorhersehbaren Ereignisse, die er als „schwarze Schwäne“ bezeichnet[2], weil man sie sich ebenso schwer vorstellen kann, wie einem nicht weißen, sondern außergewöhnlich gefärbtem Schwan zu begegnen. Es geht also um Risiken, Wahrscheinlichkeiten und die Gegenüberstellung von Theorie und Praxis. Als Fortsetzung ist  das Buch „Antifragilität“ erschienen. Hier geht es um die Fähigkeit, nicht fragil und zerbrechlich, sondern resilient zu sein und gestärkt aus Krisen hervorzugehen.

Aus beiden Büchern habe ich interessante Ideen mitgenommen, die mir mein Leben als Übersetzerin und Unternehmerin erleichtern.

  • Unternehmer lieben das Risiko? Nein! Unternehmer mögen kein Risiko, so Taleb. Es herrscht die Meinung, dass der Unternehmer sich eifrig in riskante Situationen begibt, um Profit zu erwirtschaften. In der Tat versucht der Unternehmer Risiken zu minimieren, damit sein Unternehmen erst mal überhaupt überlebt.
  • Die falsche Behauptung, dass ein Festangestellter im Vergleich zum Unternehmer ein stabileres Leben hat. Diese Behauptung ist nur zum Teil richtig. Man nehme eine beliebige Krise (2008 oder 2020) und beobachte, was mit den Arbeitsstellen und folglich mit Festangestellten passiert. Im Unterschied zu Festangestellten mögen Unternehmer viele offensichtliche Risiken im Alltagsleben haben (kein geregeltes Einkommen, mehrere Kunden, ständige Suche nach neuen Kunden), aber Risiken wie „plötzlich gekündigt zu werden und lange danach keinen Job finden“ sind im Großen und Ganzen für Unternehmer viel kleiner. Wie kommt es dazu?

„Offene“ und „versteckte“ Risiken

Taleb schreibt: „Eine zentrale Illusion im Leben besteht darin, anzunehmen, Zufälligkeit sei riskant und schlecht; und Zufälligkeit könne beseitigt werden, indem man Zufälligkeit beseitigt.“[3] Mit anderen Worten: Die Risiken, die Freiberufler und Unternehmer auf sich nehmen, sind offensichtlich. Ein bestimmtes Produkt oder eine Dienstleistung kann verkauft werden oder eben nicht. Es gibt keine Gewissheit darüber, dass das Produkt oder die Dienstleistung überhaupt Geld einbringt. Und da tritt eine natürliche Folge dieser Ungewissheit ein: Weil ich dieses Risiko sehe, ist klar, dass ich nach Rücksicherungsstrategien suchen muss, falls ich mein tolles Angebot nicht verkaufen kann. Freiberufler werden durch diese Not praktisch gezwungen, sich durch mehrere Kunden, Rücklagen und andere Strategien abzusichern. „Die Risiken eines Angestellten sind versteckt.“, sagt Taleb hierzu.[4] Eines Tages kann man die Stelle verlieren – was, wenn das in einer Krisenzeit passiert?

Unternehmertum: Fähigkeit entwickeln, mit Chancen und Risiken umzugehen

Am meisten irritiert es mich, wenn ich von meiner Krankenversicherung (oder Finanzamt – also von irgendwelchen Behörden) gefragt werde, welche Summe ich dieses Jahr verdienen werde oder wie viele Stunden pro Woche ich arbeite. Der Grund dafür ist simpel: Eine feste Arbeitsstundenzahl und Vorhersagbarkeit der Summen auf meinem Konto gibt es nicht. Diese Zahlen gelten nur für Festangestellte. Das bedeutet nicht, dass ich sie nicht habe – nur kann ich sie nicht vorhersehen und muss mit dieser Ungewissheit irgendwie klarkommen.

Unternehmer lernen daher sehr schnell, Chancen zu sehen und sie zu nutzen. Zum Beispiel musste ich noch vor ein paar Jahren potenzielle Kunden, die Urkundenübersetzungen brauchten, an meine Kolleginnen weiterleiten. Als sich die Zahl der potenziellen Kunden vergrößerte, musste ich darauf reagieren und eine Entscheidung treffen: Entweder leite ich diese Kunden weiterhin an andere Kolleginnen weiter oder lasse mich ermächtigen und fertige beglaubigte Übersetzungen selbst an. Ich habe mich für die zweite Variante entschieden, eine Weiterbildung abgeschlossen und ließ mich beeidigen.

Taleb schreibt in seiner „Antifragilität“ über Selbstständige: „[…] ein Monat ohne Einkünfte treibt sie dazu an, ihre Fähigkeiten zu überprüfen und zu verbessern.“ Das kann ich aus eigener Erfahrung nur bestätigen: Sobald ich eine Durststrecke hatte, war ich gezwungen, nach Gründen zu suchen, eine neue Strategie zu entwickeln, eine Weiterbildung zu machen und neue Kunden oder Bereiche zu suchen, die für mich rentabel sind.

Gegen schwarze Schwäne ausgerüstet

In seinen Büchern nennt Taleb auch Bewältigungsstrategien, die uns die Natur bietet: Redundanz (zwei Lungen, zwei Nieren) im Gegenteil zur Optimierung, d. h. Vernichten dieser zusätzlichen Überlebenschancen. Für Unternehmer bedeutet das: mehrere Einnahmequellen, Kombinationen aus Festanstellung und nebenberuflicher Selbstständigkeit sein, Kombinationen aus unterschiedlichen Geschäftsideen (ich wollte eigentlich X machen, die Kunden haben mich aber nach Y gefragt, jetzt mache ich beides).

Eine weitere Bewältigungsstrategie ist das Gegenteil der „Spezialisierung“. Die Natur, so Taleb, mag keine zu enge Spezialisierung, weil es die Evolution  begrenzt und die Lebewesen schwächt. So, zum Beispiel, produzieren fast alle Großkonzerne, die seit über 100 Jahren existieren, heute nicht mehr die Produkte, mit denen sie angefangen haben.[5]

Eine weitere Bewältigungsstrategie nach Taleb: Ersparnisse anstatt Schulden. Das mag nicht unbedingt offensichtlich sein, weil viele Kredite aufnehmen, um ihr Unternehmen zu gründen, jedoch ist es ein Risikofaktor, der gerade in der jetzigen Situation besonders offensichtlich ist. Für einen Übersetzer ist es aber leicht, diese Bewältigungsstrategie zu nutzen: Um ein eigenes Einzelunternehmen zu gründen, braucht man anfangs nur umfangreiches Wissen, einen PC oder Laptop, vielleicht noch einen Drucker dazu – also nichts Außergewöhnliches, was sonst nicht fast jeder Haushalt hat.

Diese drei Bewältigungsstrategien erleben Unternehmer, sobald sie ein Unternehmen gründen. Und wieso taucht der „Schwarze Schwan“ im Titel dieses Abschnittes auf? Mit all diesen Erfahrungen ausgerüstet ist ein Unternehmer meiner Meinung nach besser auf unvorhersehbare Krisensituationen vorbereitet als ein Nicht-Unternehmer. Ein Unternehmer ist flexibler, agiert und reagiert schneller, hat sehr wahrscheinlich mehr Rücklagen und ist durch die vorherigen Erfahrungen resilient. Denn die Aufgabe eines Unternehmens ist nicht, Profit zu erwirtschaften, sondern erstmal zu überleben.

Olga Kuzminykh ist Diplom-Übersetzerin, Konferenzdolmetscherin für Russisch, Englisch und Deutsch sowie öffentlich bestellte und vereidigte Dolmetscherin und Übersetzerin für Russisch. Seit 2015 ist sie selbstständig tätig, seit 2018 ist sie Präsidentin des DVÜD e.V. Eine Langversion dieses Artikels gibt es auf ihrem Blog.


[1] Taleb, Nassim Nicholas (2018): Der Schwarze Schwan: Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse. München: Pantheon. Aus dem Englischen von Ingrid Pross-Gill.

[2] In der NZZ bezeichnet ausgerechnet Taleb die Pandemie als „weißen Schwan“, viele KMU und Freiberufler erleben jedoch die Pandemie als typischen „schwarzen Schwan“: https://www.nzz.ch/feuilleton/kein-schwarzer-schwan-nassim-taleb-ueber-die-corona-pandemie-ld.1548877

[3] Taleb, Nassim Nicholas (2018): Antifragilität. Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen. München: Pantheon, S. 127. Aus dem Englischen von Susanne Held.

[4] Ebd.

[5] Es reicht ein Blick auf die Geschichte der BASF in der Wikipedia.

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