Die Überwindung von Sprachgrenzen im Bereich Sozialwesen und Gesundheit – professionell als Community Interpreting, Fachdolmetschen oder Dolmetschen im Gemeinwesen bezeichnet – hat in Deutschland nur einen geringen Stellenwert. Dabei fordern Stimmen aus den Verwaltungen, den Sozialverbänden, der Medizin und Psychologie seit Jahren Verbesserungen für Menschen aus anderen Sprachräumen.
Sprachgrenzen im Gesundheitsbereich
In vielen Situationen können Laiensprachhelfer wertvolle Hilfe leisten, um Sprachgrenzen zu überwinden. In Medizin und Psychologie geht es allerdings oft um sehr persönliche Themen, mitunter auch um Sicherheitsaspekte bei Diagnose und Therapie. Wenn Angehörige (z. B. ein Ehepartner oder gar Kinder) als Dolmetschperson einspringen, kommt es vor, dass die Patient:innen bestimmte Symptome oder Vorerkrankungen vor Angehörigen nicht nennen oder wichtige Fragen nicht stellen. Umgekehrt übersetzen Angehörige vielleicht nicht alle Aussagen im Arzt-Patienten-Gespräch wortgetreu, weil sie diese als unpassend oder peinlich empfinden oder weil sie das Familienmitglied schonen möchten.
Haltet die Kinder raus!
In Gesprächsrunden sagen selbst Erwachsene, die heute beruflich übersetzen, dolmetschen oder im Sozialbereich tätig sind, dass sie als Kinder zwar ihr Bestes taten, aber überfordert waren. Und sie hätten bis heute Schwierigkeiten damit, für ihre inzwischen betagten Eltern zu dolmetschen. Man tut es trotzdem, aus Liebe und Pflichtgefühl, aber es fühlt sich falsch an.
Kinder überwinden Sprachgrenzen schneller und intuitiver als Erwachsene. Das Dolmetschen für Angehörige beinhaltet jedoch einen Rollentausch und ist mit viel Verantwortung verbunden. Zudem bedeutet Zweisprachigkeit nicht automatisch, dass man beide Sprachen auf gleichem Niveau beherrscht und beispielsweise Anträge korrekt ausfüllen kann. Das Kind gerät so zwischen die Fronten und entwickelt gegenüber der Familie womöglich Schuldgefühle, wenn ein wichtiger Antrag abgelehnt wird.
Professioneller Abstand
Professionelle Dolmetscher unterliegen ebenso wie ehrenamtliche Sprachmittler:innen einer umfangreichen Schweigepflicht. Darauf können sich Klient:innen verlassen.
Bei Verdacht auf häusliche Gewalt, Krisenintervention, Schwangerschaftskonflikt, traumatischen Gewalterfahrungen und generell in psychiatrischen/psychologischen Gesprächen sollte keinesfalls auf Angehörige oder Personen aus dem Freundeskreis oder der Nachbarschaft zurückgegriffen werden. Hier ist professioneller Abstand schon deshalb wichtig, damit die Betroffenen im Alltag nicht ständig mit Personen Kontakt haben, die ihre intimsten Gedanken kennen.
Schweigepflicht braucht Supervision
Dolmetschende, die in diesem Kontext tätig sind (ob ehrenamtlich oder angemessen bezahlt), brauchen Supervisionsangebote, um ihre Erfahrungen zu verarbeiten. Diese Möglichkeit sollten überall zum Standard gehören und niederschwellig zugänglich sein. Andernfalls besteht unter bestimmten Umständen für die Helfenden die Gefahr einer Sekundär- oder (bei der Aktivierung von Erinnerungen an eigene Traumata) Retraumatisierung. Eine Sekundäre Traumatisierung bedeutet psychologisch, dass Helfende selbst unter dem leiden, was sie gehört und weitergegeben haben, und entsprechende Symptome entwickeln (das würde bei dolmetschenden Familienangehörigen weitere Probleme nach sich ziehen). Starke eigene Emotionen oder große Empathie mit dem Opfer können zudem die neutrale Position des Sprachmittlers und damit wiederum die Gesprächssituation beeinträchtigen.
In Veranstaltungen zu diesem Thema ist regelmäßig die Aussage zu hören: „Ja, ich habe solche Gespräche eine Zeitlang gedolmetscht. Aber es ging mir so sehr an die Nieren, dass ich das nicht mehr mache.“ Das bedeutet: Wenn die Sprachhelferin nicht von Anfang an professionell begleitet wird, schrumpft der Pool derjenigen, die sich zu dieser Leistung bereit erklären, sehr schnell. Man muss also regelmäßig neue Sprachmittlerinnen ausbilden, anstatt auf erfahrene Kräfte zurückzugreifen, die gute Strategien erlernt und eingeübt haben, um trotz der Beanspruchung gesund zu bleiben.
Das machen unsere Ehrenamtlichen!?
Voraussetzungen für eine zuverlässige Sprachmittlung im Gemeinwesen und in allen Bereichen der Gesundheit sind: Pünktliches, zuverlässiges Erscheinen, eigene Anfahrt (ebenfalls mit Zeit und eventuellen Kosten verbunden), Bereitschaft, Wartezeiten in Kauf zu nehmen, Verzicht auf anderweitige Berufstätigkeit, soziale Absicherung, Fortbildungsbereitschaft in der Freizeit, professionelle Zurückhaltung und Verschwiegenheit – also vieles, was in der deutschen Ehrenamtskultur im Miteinander von professionellen und ehrenamtlichen Kräften im Vereins- und Verbandsleben als selbstverständlich gilt.
Doch wenn die Dolmetscherin aus einem schwierigen Gespräch nach Hause geht, fehlen Gemeinschaftserlebnisse und der immaterielle Statusgewinn, wie sie beispielsweise mit einer öffentlichen Blutspendeaktion, Sanitätsdienst auf einem Konzert oder auch dem Einsatz bei THW und Feuerwehr verbunden sind, und je nach Bundesland ist sie unterwegs trotz Ehrenamt nicht einmal unfallversichert.
Was fehlt, ist auch eine faire Kostenerstattung – von einer in manchen Gemeinden üblichen Kostenpauschale von 10 Euro pro Stunde lassen sich unter Umständen nicht einmal die Fahrt- und Parkkosten oder aber ein Betreuungsplatz für die eigenen Kinder in dieser Zeit bezahlen. Hier sind die Gemeinden gefragt, intelligente Modelle zu finden. Sie könnten beispielsweise für ehrenamtliche Integrationshelfer:innen durch Leistungen wie kostenlose Parkplätze, Zugang zu Carsharing oder Zuschüsse zu Kita- oder Hortplätzen einen erkennbaren Ausgleich schaffen. Alternativ müssten sie ausreichende Mittel für ausgebildete, freiberufliche Sprachmittlung bereitstellen.
Mehrsprachige Fachkräfte als Lösungsansatz
Kliniken und Verwaltungen ermuntern mehrsprachige Beschäftigte zur Bewerbung, um Sprachgrenzen aus eigener Kraft zu überwinden. Sie werben für und mit Diversität, und prinzipiell ist das ein kluger Ansatz. Allerdings ist insbesondere das Gesundheitswesen ohnehin starkem Arbeitsdruck ausgesetzt, und die Stationen waren schon vor Corona eher unterbesetzt.
Wenn angestellte Fachkräfte zusätzlich dolmetschen sollen, muss eine andere Person ihre reguläre Arbeit übernehmen. Das heißt, man bräuchte eine Personalreserve. Und dennoch kann die Anästhesistin nicht einfach aus dem OP-Saal verschwinden, um ein schwieriges Gespräch in der Neurologie zu dolmetschen. Sie könnte dieses Fachgespräch auch nicht kurzerhand selbst übernehmen und dafür dem Kollegen aus der Neurologie die Anästhesie übertragen. Auch der Ansatz „Wir haben jemanden, der diese Sprache beherrscht“ hat somit erkennbare Grenzen.
Profis zielgenau einsetzen
Freiberufliche Dolmetschpersonen können heutzutage über verschlüsselte Online-Verbindungen zugeschaltet werden und mittels Videodolmetschen einspringen. Dadurch entfallen Fahrtkosten sowie Kosten für Anfahrts- und Wartezeiten. Bei hohem Bedarf an einzelnen Sprachen könnte man lokal auch gruppenspezifische Sprechzeiten einrichten, in denen ausgebildete Dolmetscher oder geschultes zweisprachiges Fachpersonal Kommunikation ohne Missverständnisse ermöglichen.
Alternativ könnten Städte und Kreise qualifizierte Sprachmittler in Teilzeit oder Vollzeit engagieren oder mit ihnen per Rahmenvertrag feste Monatspauschalen vereinbaren. Die Bezahlung muss in diesem Fall der Ausbildung und Erfahrung entsprechen und eine angemessene Altersvorsorge, Kranken-, Pflege- und Unfallversicherung, sämtliche eigenen Kosten usw. abdecken.
Die Abrechnung der freiberuflichen Sprachmittlung in Gemein- und Gesundheitswesen sollte an einer klar benannten Stelle gebündelt sein und gesetzlich wie die JVEG-Sätze verankert werden. Erst dann wäre gewährleistet, dass das in Artikel 3 des Grundgesetzes verankerte Benachteiligungsverbot nicht an unterschiedlichen Ansprechpartnern mit unterschiedlichen gesetzlichen Vorgaben scheitert.
Deutschland ist schon lange ein Einwanderungsland und auch immer wieder vorübergehend Heimat für Menschen, die hier studieren, arbeiten oder Zuflucht suchen. Die Gesellschaft muss sich dieser Tatsache stellen und Wege finden, Sprachgrenzen in Gemein- und Gesundheitswesen zu überwinden.
Mehr erfahren
Wer jetzt weiterlesen will, kann beispielsweise mit diesen Arbeiten anfangen und sich dann über das Literaturverzeichnis weiter vorarbeiten:
- die akademische Arbeit von Nadeen Al-Oubaidi zu „Risiken des Dolmetschens im medizinischen Bereich: Das 71-Millionen-Dollar-Wort“ (GRIN Verlag, München 2019)
- die Masterarbeit von Sophie Buss „Sprachmittlung in der Gesundheitsversorgung. Integration und Teilhabe in einer multikulturellen Gesellschaft am Beispiel Berlin“ (Universität Leipzig 2020). Der Link zur Arbeit von Sophie Buss führt zu einem frei zugänglichen PDF, und sie behandelt so interessante Fragen wie „Wer dolmetscht?“ (Punkt 2.2), „Was dolmetscht?“ (Punkt 2.5 zu technischen Möglichkeiten), sowie eine kurze Darstellung verschiedener „Wege zum Beruf“ (Punkt 2.3).
Oder man macht sich für eine Gemeinde oder Initiative persönlich auf die Suche nach passenden Sprachmittlern für einen aktuellen Bedarf, telefoniert sich durch den ehrenamtlichen Dolmetschpool („Nein, um die Zeit kann ich leider nicht“), verläuft sich im Dickicht der Zuständigkeiten („Der Termin ist wichtig, aber für einen Dolmetscher haben wir kein Budget“) und sagt sich selbst am Ende frustriert: „Das müsste anders geregelt sein.“