Ein Thema für Solo-Selbstständige?

DVÜD-Interview mit Lyam Bittar

Porträtfoto Lyam Bittar
Lyam Bittar (Foto: privat)

Lyam Bittar übersetzt, schreibt und lektoriert deutsche und englische Texte. Dabei konzentriert er sich auf zwei Fachgebiete: (1) Literatur, Kultur, Geschichte und die dazugehörigen Theorien sowie (2) Umweltschutz (Artenschutz, Klimaschutz). 2017 verstärkte er das DVÜD-Team als Beiratsmitglied. 2019 hielt er im DVÜD ein viel beachtetes Webinar zum Thema „Grünes Büro“, 2020 steuerte er im Rahmen der Themenwoche Nachhaltigkeit Videos zu den Themen Faire Finanzen und Digitaler Fußabdruck bei. Für Lyam ist unternehmerisches Handeln untrennbar mit dem Gemeinwohl verknüpft – darum haben wir ihm zum Abschluss der Themenwoche einige Fragen gestellt. Das Interview führte Imke Brodersen.

Lyam, als wir deine Beiträge zur Themenwoche Nachhaltigkeit besprachen, erwähntest du, dass du an deiner GWÖ-Bilanz arbeitest. Der Duden bezieht den Begriff Gemeinwohl in erster Linie auf das soziale Zusammenleben der Gesellschaft mit einem Schwerpunkt auf der ökonomischen und politischen Struktur. Was dem Gemeinwohl dient, regelt und fördert die menschlichen Beziehungen in der Gesellschaft und schützt [wirtschaftlich] Schwächere. Inwiefern geht denn die Gemeinwohl-Ökonomie über Umweltschutz im Büro hinaus?

Die Gemeinwohl-Ökonomie hat ein sehr umfassendes, ganzheitliches Verständnis davon, was es heißt, als Unternehmer*in zu wirtschaften. Anstatt unseren Erfolg – wie oft üblich – an Kennzahlen wie Umsatz und Gewinn festzumachen, orientiert sich die GWÖ an grundlegenden Werten, die wir in der ein oder anderen Form in jeder demokratischen Verfassung wiederfinden: Menschenwürde, Solidarität, Gerechtigkeit, ökologische Nachhaltigkeit, Transparenz und Mitentscheidung. Damit diese Werte nicht im luftleeren Raum schweben, werden sie in Bezug zu fünf Berührungsgruppen gesetzt. Das Ergebnis ist die GWÖ-Matrix, die zusammen mit dem Arbeitsbuch [Link führt zu PDF] als Grundlage für die Bilanzierung dient und ganz konkrete Fragen aufwirft:

  • Wie evaluiere ich soziale Risiken in der Zulieferkette?
  • Wie investiere ich meine Gewinne und Rücklagen?
  • Wie gestalte ich meine Beziehungen zu Kund*innen und Mitunternehmen?
  • Was trage ich zum Gemeinwesen bei?

Von daher ist ökologische Nachhaltigkeit im Büro definitiv ein Thema, aber eben nicht das einzige.

Gemeinwohl-Matrix 5.0 mit Angaben zu Werten in den Spalten 1 bis 4 und Angaben zu Berührungsgruppen in den Spalten A-E

Wo liegt in deinen Augen für einen Unternehmer der Vorteil, wenn man sich diesem Zertifizierungsprozess stellt? Hattest du Aha-Erlebnisse?

Die Aha-Erlebnisse habe ich vor allem seit dem Abschluss der Bilanzierung im Februar. Im Nachhinein betrachte ich die sieben Monate, in denen meinen Gemeinwohl-Bericht erarbeitet habe, wie eine zweite Unternehmensgründung. Den Prozess habe ich ja nicht alleine absolviert, sondern in einer Peer Group mit Menschen aus vier weiteren Unternehmen – soulproducts, kiezbett, SODI und organiced kitchen. Das war eine ungemein bereichernde Erfahrung, weil wir uns gegenseitig befragt, hinterfragt, beraten und evaluiert haben. Und die fertige Bilanz (die ich auf Anfrage gern zusende) ist ja im strengen Sinn kein Schlussstrich: Sie gilt bis 2022; danach steht die Folgebilanz an. Und dazu kommt: Der Bericht deckt ja auch meine Schwächen auf – und ist damit ein positiver Anstoß für meine weitere Unternehmensentwicklung.

Gab es bei der Zertifizierung Momente, wo du dachtest, verflixt, das ist derart undurchschaubar verflochten – ich gebe auf!

Natürlich gibt es weiterhin Bereiche, die ich nicht durchschaue. Meine private Rentenversicherung ist so ein Thema. Bislang dachte ich, ich hätte mich da gut beraten lassen. Es stellte sich aber heraus, dass ich gar keine Auskunft geben konnte, wohin ein Teil meiner Beiträge fließt. Inzwischen weiß ich, dass ich sie der Deutschen Bank überlasse. Das werde ich jetzt ändern. Ein anderes Thema ist meine Arbeitszeit. Ich habe keinen Überblick darüber, wie viel ich pro Monat arbeite. Ich rechne bestimmte Dienstleistungen natürlich auf Stundenbasis ab, aber am Ende des Monats kann ich dir keinen objektiven Beleg dafür vorlegen, dass ich mich nicht selbst ausbeute. Der Gedanke daran, die Bilanzierung deshalb aufzugeben, ist mir aber nie in den Sinn gekommen. Die Haltung, die ich aus solchen Fragen mitgenommen habe, ist: Wenn ich als Einzelunternehmer solche blinden Flecken nicht beseitigen kann, wie soll ich das dann von großen Unternehmen erwarten?

Gibt es weitere Siegel oder Zertifikate in dieser Richtung? Wie kann ich bei der Entscheidung für einen Geschäftspartner auf die Schnelle erkennen, ob jemand sich ernsthaft bemüht, umweltfreundlich, nachhaltig und verantwortungsbewusst zu wirtschaften, also am Gemeinwohl orientiert?

Soweit ich weiß, gibt es keine Bilanzierung, die so umfassend ausgelegt ist. Aber da bin ich vielleicht noch etwas voreingenommen. 🙂 Du kannst also Ausschau halten nach GWÖ-bilanzierten Unternehmen. In Deutschland sind es inzwischen an die 500. Inzwischen lassen sich sogar die ersten Gemeinden bilanzieren! Daneben gibt es eine wachsende Bewegung von „Certified Benefit Corporations“ oder die Stiftung Verantwortungseigentum. Grundsätzlich würde ich sagen: nutze das beste Instrument, das uns allen zur Verfügung steht – aufgeschlossenes Fragenstellen.

Muss man nach einer bestimmten Zeitspanne eine Neuzertifizierung durchlaufen? Wie lange gilt deine GWÖ-Bilanz?

Bis 2022; siehe meine Antwort zu Frage 1.

Wenn ich jetzt auch so eine GWÖ-Bilanz machen möchte – wie stelle ich das an? Was sind die ersten Schritte, und wie hoch ist der Zeitaufwand?

Zum Einstieg kannst du dich auf der Webseite der GWÖ hier orientieren und einen Schnelltest [Link führt zu PDF] ausfüllen. Im Anschluss kannst du dich mit deiner Anfrage an beratung@ecogood.org wenden oder mit einer Regionalgruppe Kontakt aufnehmen. Für den gesamten Prozess etwa 100 Arbeitsstunden und etwa 1.500 Euro einplanen.

Als Unternehmer bist du für alle Kriterien deiner Arbeit selbst verantwortlich. Als Angestellter könntest du dir einfach ein passendes Unternehmen suchen. Ist diese Selbstverantwortung nicht furchtbar anstrengend?

Nö. Ich kann mich da nur dem anschließen, was unsere Kolleg*in Bettina Röhricht diese Woche in ihrem Video sehr schön auf den Punkt gebracht hat: Klar brauchen wir für die Selbstständigkeit viel Eigeninitiative, viel Verantwortung und viel Entscheidungsfreude. Ich sehe diese Anforderungen aber nicht als Last, sondern als Aspekte, die mir helfen, meine Arbeit selbstbestimmt so zu gestalten, wie ich es für gut und richtig halte. Ich sehe mich da ganz wörtlich als Frei-Berufler.

Durch die Corona-Krise ist die Gesellschaft derzeit in Unruhe geraten. CarSharing und öffentlicher Nahverkehr haben mit sinkender Nachfrage zu kämpfen; andererseits haben Städte wie Brüssel oder Mailand die Chance genutzt, den Autoverkehr weiter aus den Zentren zu verdrängen. Siehst du derzeit auch Aufwind für Initiativen für mehr Gemeinwohl und Nachhaltigkeit?

Auch die Grünen haben gerade mit einer sinkenden Nachfrage zu kämpfen. Die Frage ist wohl, ob es uns gelingt, die „Normalität“ zu hinterfragen, in die wir „zurückkehren“ möchten. Im Zweifel bin ich ja für den Optimismus! Klar ist: Wir leben auf einem angezählten Planeten, auf Kosten und zu Lasten anderer Menschen und der Natur. Wir kommen nicht umhin, uns und unsere Art zu wirtschaften zu ändern. Und wenn ich überlege, an wen ich meine Forderungen richten kann, komme ich wieder auf die Einsicht zurück, die ich im Rahmen der GWÖ-Bilanzierung gewonnen habe: Was kann ich von Unternehmen, von großen und kleinen Parteien, von Entscheidungsträger*innen erwarten, wenn ich selbst nicht danach lebe? Die Initiative und der Aufwind sind also wir – wir als Unternehmer*innen, wir als Wähler*innen, wir als Eltern oder Pflegende, wir als Menschen in unserem jeweiligen Umfeld. Und das heißt: Jeder Anfang ist ein Anfang!

Vielen Dank, Lyam, für deine Zeit und die Bereitschaft, deine Erfahrungen mit uns zu teilen.

Ergänzung der Redaktion: In Absprache mit Lyam hinterlegen wir seine Gemeinwohl-Bilanz im DVÜD-Mitgliederbereich.

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