Unterschiedliche Antworten auf scheinbar unterschiedliche Fragen
von Stefan Friedrich
Vorbemerkung: Im folgenden Text werden Begrifflichkeiten aller im Deutschen üblichen Genera genutzt. Soweit sie sich auf Personen oder Personengruppen beziehen, sind stets Singular, Plural und Angehörige aller Geschlechter gleichermaßen gemeint, auch wenn auf politisch konnotierte syntaktische Sonderformen verzichtet wird.
A. Tunnelblick ohne Durchgangstunnel
Juristen (m/w/d, im Folgenden „J.“) und juristische Fachübersetzer (m/w/d, im Folgenden „Ü.“) sind Sprachlogiker und arbeiten mit Texten. Es könnte naheliegen, dass sich beide Berufsgruppen ähnliche Fragen stellen und in Teilbereichen ähnlicher analytischer Methoden bedienen, die sie auch benennen können, möglicherweise auch gemeinsam erlernt haben.
Mit einer Blitzumfrage unter J. in einem Freiberuflerforum habe ich vor Kurzem nachgefragt, wer sich schon einmal mit Skopostheorie oder anderen linguistischen Analysen befasst hat. Von den Befragten konnte oder wollte sich niemand entsprechend outen.
Ähnlich sieht es nach meiner Erfahrung bei uns Ü. aus. Wer nicht zufällig auch mal bei den J. in die Vorlesungen gestolpert ist, weiß meist wenig über die Systematik juristischer Analysen.
Im Folgenden sollen daher ein übersetzerischer und ein juristischer Analyseansatz kurz angerissen und einander gegenübergestellt werden.
I. Die Ü-Welt: Sprachliche Äußerungen sind ziel- und zweckorientiertes Handeln
1. Textlogik: Funktionsanalyse
In der funktionalen Übersetzungstheorie, wie sie vor allem durch die Skopostheorie (u.a. von Katharina Reiß, Hans Vermeer, Hans G. Hönig, Paul Kußmaul und Sigrid Kupsch-Losereit) geprägt wurde, werden sprachliche Äußerungen als bewusstes, zielorientiertes Handeln eines Senders gesehen, der eine Botschaft über einen gewählten Kanal (Zeitschrift, Rundfunk, mündlicher Dialog, Podcast, Fachartikel, Messenger-Nachricht usw.) zu einem bestimmten Zweck an einen oder mehrere Empfänger (E) schickt.
Ü. nehmen hierbei eine Doppelrolle ein: als Empfänger (E) der ausgangssprachlichen Botschaft und als Sender (S) der zielsprachlichen Botschaft, die einem neu definierten Zweck dient. Dieser muss nicht unbedingt mit dem ursprünglichen Zweck übereinstimmen.
a) Leitfrage
Diese Logik lässt sich (vereinfacht) zu der Frage zusammenfassen:
Wer sagt was mit welcher Absicht und zu welchem Zweck zu wem über welchen Kanal?
Aus der Antwort ergibt sich im Idealfall ein logischer Top-Down-Prozess bei der Analyse des Ausgangstexts, der von der Texteinbettung über die einzelnen Sprachhandlungen des Texts (Aufforderung, Verpflichtung, Feststellung usw.) bis zum gelungenen Verständnis der einzelnen Begriffe reicht und schrittweise abgearbeitet wird.
b) Anwendung bei Rechtstexten
Bei einem Vertragstext zum Beispiel läge der Zweck des ausgangssprachlichen Originals zum einen in der Realisierung eines Rechtsgeschäfts, zum anderen in einer rechtssicheren Formulierung, die zu möglichst wenig Missverständnissen Anlass gibt und rechtliche Risiken eindämmt.
Zweck der Übersetzung ist oft die Unterrichtung über den Inhalt eines bereits geschlossenen Vertrags (dokumentarische Übersetzung). Der Vertrag muss hier zwar in eine andere Sprache übertragen, darf aber nicht in das Rechtssystem der Zielsprache umgebettet werden.[1] Aus dem geänderten Zweck des Texts, von Schaffung von Rechtssicherheit“ (Ausgangstext, im Folgenden „AT“), zu Dokumentation eines Rechtszustands (Zieltext, im Folgenden „ZT“) folgt also eine Konstanz in den Bezügen. Inhaltliche Eingriffe durch die Ü. sind tabu.[2]
2. Begriffslogik: Wortfelder beackern in Sem City
Bei der dokumentarischen Rechtsübersetzung müssen die Bezüge zum ursprünglichen Rechtssystem erhalten bleiben. Es stehen aber nur zielsprachliche Begriffe zur Verfügung, die in die Logik eines anderen Rechtssystems eingebettet sind.[3] Wer hier unreflektiert von Äquivalenzen auf Wortebene ausgeht, spielt mit dem Feuer.
Hilfreich ist die Funktionsanalyse insoweit, als sie in einem Top-Down-Prozess Entscheidungsfolgen vorgibt, die diese Problematik im Einzelfall bewusst machen. Anhand textlogischer Bezüge lässt sich etwa entscheiden, wann das Wort „or“ disjunktiv oder adjunktiv zu verstehen ist; die Übersetzung von shall, shall not, oder may gelingt, wenn der/die Ü. weiß, welche Sprachhandlung damit im AT kodiert wurde (Verpflichtung, Verbot, Erlaubnis).
Sie stößt aber dort an ihre Grenzen, wo scheinbar leicht verständliche, aber inhaltlich komplexe Begriffe zwischen den Rechtssystemen ganz unterschiedlich abgegrenzt werden (agent, vicarous agent, proxy, assistant, representative vs. Erfüllungsgehilfe, Stellvertreter, Empfangsbote, Erklärungsbote, Vertreter, Bevollmächtigter, Stellvertreter). 1:1-Entsprechungen braucht man hier gar nicht erst zu suchen.
Hier mageine Sem-Analyse weiterhelfen, bei der man den problematischen Begriff in seine Bedeutungskomponenten zerlegt und diese mit dem Kontext einerseits und dem Angebot an zielsprachlichen Begriffen andererseits abgleicht.Diese Vorgehensweise stellt eine heuristische Annäherung an der Schnittstelle zwischen Analyse (AT) und Synthese (ZT) dar.
Spätestens jetzt lohnt sich ein Blick über den Tellerrand. Wie verstehen J. Texte, wie legen sie Verträge, Rechtsnormen und Rechtsbegriffe aus?
II. Die J-Welt: Auslegung ist die Erfassung des eigentlichen Sinns
1. These: Stringente logische Strukturen helfen beim Denken
Wenn eine Rechtsfrage zu klären ist – zum Beispiel die Frage, ob und in welcher Höhe Nachbar N. Schadensersatz verlangen kann, wenn mein Hund Hasso seinen geliebten Gartenzwerg Gustav markiert hat – ist in der Juristenausbildung das Rechtsgutachten das Mittel der Wahl. Es ist strikten Textsortenkonventionen unterworfen, die der logischen Klarheit dienen sollen, und bietet einen strategischen Rahmen für die Problemanalyse.
2. Leitfrage
Im Zivilrecht – um im Umfeld des Vertrags zu bleiben – dreht sich dabei alles um die Leitfrage:
Wer will was von wem woraus?
Oder anders ausgedrückt: Wer stellt einen Anspruch, wer ist Anspruchsgegner, welchen Inhalt hat der Anspruch, und mit welcher Rechtsnorm ließe sich der Anspruch gegebenenfalls begründen?
3. Lösungsstrategie
Der erste Schritt wäre die Formulierung einer zu prüfenden These („Obersatz“), in der sich diese Leitfrage widerspiegelt. Dazu braucht es eine passende Rechtsvorschrift, die die J. vielleicht in § 833 S. 1 BGB findet:
„Wird durch ein Tier ein Mensch getötet oder der Körper oder die Gesundheit eines Menschen verletzt oder eine Sache beschädigt, so ist derjenige, welcher das Tier hält, verpflichtet, dem Verletzten den daraus entstehenden Schaden zu ersetzen.“
Die These wäre dann:
N. könnte gegen F. einen Anspruch auf Schadensersatz aus § 833 S. 1 BGB haben.
Die J. überführt diese These dann in die einzelnen Bedingungen („Tatbestände“), die alle erfüllt sein müssen, damit die These bestätigt werden und der Anspruch somit festgestellt werden kann (Schadensverursachung durch ein Tier; Verletzung eines der Rechtsgüter Leib, Leben, Gesundheit, Eigentum; Tierhalter; weitere allgemeine Grundsätze).
Diese Bedingungen werden einzeln mit dem Sachverhalt (also dem tatsächlichen Hergang) abgeglichen. Bin ich zum Beispiel gar kein Tierhalter im juristischen Sinn, geht der N. leer aus (oder J. muss eine andere Rechtsnorm erfolgreich prüfen).
Kommt es dabei zu Unsicherheiten, zum Beispiel bei der Frage, ob die Verschmutzung des Gartenzwergs auch eine Sachbeschädigung ist, wird die J. die Meinungen von Rechtsgelehrten und der Gerichtsbarkeit zu Rate ziehen und/oder den betreffenden Rechtsbegriff auslegen. Anders als der Ü. greift sie auf einen festgelegten Kanon von unterschiedlich gewichteten Auslegungsmethoden zurück:
4. Begriffsauslegung: die sechs heiligen vier canones der Auslegung
Der Begriff, hier „Beschädigung“, wird nacheinander auf den folgenden Ebenen ausgelegt:
a) Grammatische Auslegung:
Hier geht es nicht nur um die Syntax, sondern vor allem um den Wortlaut: Gibt es eine klärende juristische Definition? Wie wird der Begriff allgemeinsprachlich verwendet?
b) Systematische Auslegung:
Auslegung aus dem Zusammenhang. In welchem Kontext steht die Rechtsnorm? Welche anderen Rechtsnormen sind damit verknüpft, wie gliedert sich die Rechtsnorm in die Rechtsordnung ein?
c) Teleologische Auslegung
Welchem Zweck dient die Rechtsnorm? Welches Rechtsgut, welches Interesse soll geschützt werden? Was möchte der Gesetzgeber mit der Regelung erreichen?
d) Historische Auslegung
Was hat sich der Gesetzgeber gedacht? Welche Diskussionen wurden geführt, wie kam es zu genau dieser Formulierung der Rechtsnorm?
Zu diesen klassischen vier Auslegungsmethoden kommen noch die EU-konforme und die verfassungskonforme Auslegung hinzu; Rechtsnormen müssen verfassungsgemäß und konform zum EU-Recht ausgelegt werden.
B. Blick über den Tellerrand
I. Gemeinsamkeiten
Die vier klassischen canones und die mit ihnen verbundenen Fragen lassen sich in bestimmten Kategorien in der funktionalen Übersetzungstheorie abbilden:
„grammatisch“ = Wortlaut: Wort- und Satzsemantik; Syntax
systematisch: Kontext
teleologisch: Sinn und Zweck; Intention
historisch: abstrahierte Rückfrage beim Sender zur Ermittlung der Intention
Die grammatische Auslegung wäre also der Semantik zuzuordnen, die systematische der logischen Einbettung, die teleologische der Pragmatik; die historische Auslegung fällt ein wenig aus dem Rahmen und passt am ehesten in die Pragmatik. Ihr wird bei der Auslegung die geringste Bedeutung beigemessen.
Die J. nähert sich dem Begriff somit heuristisch auf vier bzw. sechs unterschiedlichen Wegen an und wägt zwischen den Einzelergebnissen ab; die funktional orientierte Ü. arbeitet hingegen eine logische Abfolge ab, den oben erwähnten Top-Down-Prozess, die eindeutige, wissensbasierte Entscheidungen herbeiführen soll.
II. Abgucken bei der Nachbardisziplin
Der grundsätzlichen Schwierigkeit, einen Ausgangstext, der in eine bestimmte Rechtskultur und ihre Logik eingebettet ist, mit den Begrifflichkeiten einer anderen Rechtskultur abzubilden, kann man auch mit juristischen Arbeitsmethoden nicht ohne kleinteilige Detailarbeit beikommen. Trotzdem kann man aus der juristischen Methodik einiges mitnehmen: die Wertschätzung und die Analyse logischer Bezüge; die Genauigkeit bei der Betrachtung von Tatbeständen bzw. der Wortsemantik; die Bedeutung von Sinn, Zweck, Kontext und (jedenfalls bei Rechtsnormen) der Auseinandersetzung mit dem Sender.
Hat man sich damit befasst, lohnt beim Rückgriff auf heuristische Annäherungsmethoden auch der Griff in den Werkzeugkasten der J. und der Jurastudierenden: Gesetzbücher (Legaldefinitionen!), EU-Veröffentlichungen, kommentierte Formularbücher, (Studien-)kommentare, Websites wie www.juraforum.de oder www.klartext-jura.de.
Aus eigener Erfahrung kann der Autor die Fernuni in Hagen empfehlen; dort können Juramodule auch von Gasthörern belegt werden. Fortbildung in der Nachbardisziplin lohnt sich auf alle Fälle: Die Perspektive der J. hilft auch den Ü. bei ihrer Arbeit mit Verträgen und Rechtsnormen.
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DVÜD-Gastautor Stefan Friedrich (DE/EN) versteht sich als Brückenbauer zwischen unterschiedlichen Rechtskulturen und Rechtsräumen. Er ist öffentlich bestellter und beeidigter Diplom-Übersetzer für Englisch und auf Vertragsrecht, Gesellschaftsrecht und Markenrecht/IP spezialisiert.
[1] Kupsch-Losereit, Sigrid: Vertragstexte. In: Mary Snell-Hornby u. a. (Hrsg.): Handbuch Translation. Stauffenburg-Verlag, Tübingen 1998, S. 228–230.
[2] Gegenbeispiel: Eine Bedienungsanleitung mit normierten Warnhinweisen wird für zielsprachliche Anwender derselben Maschine übersetzt. Hier bleibt der Zweck konstant; es müssen aber neue Bezüge zum Rechtssystem der Zielgruppe hergestellt werden, sodass gegebenenfalls Warnhinweise gelöscht, geändert oder hinzugefügt werden. Aus der Zweckkonstanz ergeben sich somit geänderte Bezüge, die sich bei einer fachgerechten Übersetzung auf den Textinhalt auswirken.
[3] Ausnahme, die in der Praxis durchaus vorkommt: Der Vertrag wird auf Englisch ausgehandelt und abgefasst, fußt aber auf deutschem Recht. In diesem Fall stellt sich das Problem den J., die ihrer Mandantschaft deutsches Recht verständlich machen müssen, während die Ü. wissen müssen, wo sie ihre deutschen Legaldefinitionen finden.