Im November 2022 wählten die Mitglieder des DVÜD Lyam Bittar zum Präsidenten, nachdem die bisherige Präsidentin Olga Kuzminykh ihre zweite Amtszeit abgeschlossen hatte. Ihm zur Seite stehen wie bisher Olga Müller als Vizepräsidentin und Carolin Veiland als Schatzmeisterin.

Lyam ist zweisprachig aufgewachsen (Englisch & Deutsch), lebt mit seiner Familie in Berlin und hat sich nach seinem Studium (Englische Literatur, Geschichte, Publizistik- und Kommunikationswissenschaften) ab 2015 als freiberuflicher Übersetzer etabliert. 2020 hat er seine erste Gemeinwohl-Bilanz veröffentlicht. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen Gesellschaft, Politik und Umwelt.

In Pandemiezeiten sind wir alle uns weniger begegnet als früher. Darum soll ein DVÜD-Interview denen, die Lyam noch nicht kennen, eine Brücke bauen. Die Fragen stellte Imke Brodersen.

1. Lyam, wie hast du über den DVÜD erfahren, und wann bist du Mitglied geworden?

Das war 2015, im Rahmen eines Existenzgründerseminars für Sprachmittler:innen, das der BDÜ hier in Berlin angeboten hat. Thea Döhler hat uns an zwei Tagen einen handfesten Überblick verschafft: Recht, Steuern, Versicherungen, Honorar-Kalkulation, Marketing-Grundlagen. Von allem ein bisschen, aber doch so fundiert, dass ich meine Notizen immer noch wertvoll finde.

2. Was gefiel dir am DVÜD?

Dass er im Gegensatz zum BDÜ offen war und ist für Quereinsteiger:innen. Mit meinem Abschluss in Englischer Philologie und meinen beiden Nebenfächern war eine Mitgliedschaft im BDÜ damals für mich nicht drin. Diese konservative Haltung hat mich geärgert, weil ich nach wie vor denke, dass ein Zeugnis nicht unbedingt die volle Bandbreite an Kompetenzen und Talenten spiegelt, die ein Mensch mitbringt. Wir wachsen mit der Zeit aus alten Rollen heraus und in neue hinein. Wenn wir in der Gesellschaft die Idee vom lebenslangen Lernen fest verankern wollen, sollten das die Berufsverbände auch tun. Auf diese Offenheit bin ich beim DVÜD gestoßen. Und auch nicht ganz nebensächlich: Der Ehrenkodex hat mich angesprochen, da habe ich mich wiedergefunden.

3. Welchen Themen möchtest du als Vorstandsmitglied Priorität einräumen?

Im Mittelpunkt steht für mich die Frage, wie wir für uns als Selbstständige faire und nachhaltige Arbeitsbedingungen schaffen können. Gespräche über den Stand unserer Branche haben so oft eine negative Schlagseite, und der eingeschliffene Lösungsansatz scheint der Imperativ zu sein: Rette dich vor der Maschine – bilde dich fort, spezialisiere dich, erschließe neue Marktsegmente! Diese Richtung ist sicherlich nicht ganz verkehrt. Wie ich schon sagte: Wir lernen ein Leben lang, in unserem Metier vielleicht sogar intensiver als in anderen Berufen. Trotzdem lebt ein erheblicher Anteil unserer Kolleg:innen eher prekär. Der Appell, sich zu professionalisieren, lenkt ein Stück weit davon ab, dass wir auf individueller Ebene oft nur bedingt Einfluss auf unsere Arbeitsbedingungen nehmen können. Da möchte ich ran und Wege finden, um guten Agenturen und Best Practices mehr Sichtbarkeit zu geben. Um dir ein konkretes Vorhaben zu nennen: Ich stelle mir ein frei zugängliches Ranking vor, eine Art „Good Agency Index“ oder ein „Ethical Language Service Provider Index“. Einen ersten Umriss habe ich im Mai auf den ADÜ-Nord-Tagen vorgestellt.

Im Mittelpunkt steht für mich die Frage, wie wir für uns als Selbstständige faire und nachhaltige Arbeitsbedingungen schaffen können.

Lyam Bittar, Dezember 2022

Ein weiterer Baustein wäre ein praxisorientierter Ausschreibungsleitfaden, den Auftraggeber:innen heranziehen können, um stimmige Zuschlagskriterien festzulegen, wenn sie unsere Dienstleistungen benötigen. Oft erleben wir ja den Fall, dass der Preis das einzige Auswertungskriterium ist, das Bedarfsprofil nur schwer zu erfüllen ist oder die Lose ungünstig aufgeteilt sind. Meine Erfahrung ist, dass dieses mangelnde Finetuning gar nicht Absicht ist, sondern aufgrund fehlenden Wissens oder Zeitdruck schlicht und ergreifend ausbleibt. Ich verstehe, dass manche Kolleg:innen resignieren und sich nicht mehr um öffentliche Aufträge bemühen wollen. Der konstruktive Part in mir sagt aber: Wo es Anderen an Wissen fehlt, sollten wir unser Wissen und unsere Erfahrungen teilen! Wenn ausschreibende Stellen auf einen verbindlichen Kriterienkatalog zurückgreifen können, profitieren wir in Zukunft als Branche davon.

Weiter nach vorn blickend, würde ich mir wünschen, dass wir uns als Verband nachhaltiger ausrichten und langsam in Richtung Gemeinwohl-Bilanzierung bewegen. Die Gemeinwohl-Ökonomie ist für mich das bislang klügste Wirtschaftsmodell, das nicht nur in der Theorie diskutiert wird, sondern in der Praxis von immer mehr Unternehmen umgesetzt wird. Sobald wir den Launch unserer neuen Mitglieder-Plattform gestemmt haben, würde ich mir wünschen, dass wir als Verband in diesen Prozess gehen. Falls das zu viele Energien bündelt, würde ich alternativ gerne eine verbandsübergreifende Initiative starten. Vielleicht so etwas wie einen offenen Arbeitskreis, der sich näher mit den Ideen der Gemeinwohl-Ökonomie und anderen alternativen Wirtschaftsmodellen befasst. Ein Forum, in dem wir uns gegenseitig inspirieren können.

Die Gemeinwohl-Ökonomie ist für mich das bislang klügste Wirtschaftsmodell, das nicht nur in der Theorie diskutiert wird, sondern in der Praxis von immer mehr Unternehmen umgesetzt wird.

Lyam Bittar, Dezember 2022

Ich bin überzeugt, dass dieser Fokus auf mehr Fairness dringend gebraucht wird, ganz unabhängig davon, ob wir den Begriff „fair“ ökonomisch, sozial oder ökologisch definieren. Ich glaube auch, dass uns das vorherrschende Narrativ von der drohenden Abschaffung unserer Branche davon abhält, die positiven Beispiele zu sehen, die Unternehmer:innen, die ihr Business less usual angehen.

Ein vielversprechender Partner in dieser Hinsicht ist Fairwork, ein Forschungsprojekt, das vom Wissenschaftszentrum Berlin und dem Oxford Internet Institute koordiniert wird. Es bewertet Arbeitsbedingungen auf digitalen Plattformen und hat im Oktober zum ersten Mal unsere Branche in den Blick genommen, genauer gesagt neun große Übersetzungs- und Transkriptionsplattformen. Die Vorbereitungen für den Folgebericht werden im neuen Jahr anlaufen, und da ich mit den Hauptautor:innen bereits in Kontakt stehe, sollten wir dort anknüpfen und im Dialog mit Fairwork ausloten, wie wir denjenigen in unserer Branche ein größeres Augenmerk schenken können, die umsichtig und nachhaltig wirtschaften.

4. Der DVÜD ist ein Verband, der seit seiner Gründung 2011 so digital wie möglich organisiert war. Wie kommst du damit zurecht, intensiv online zusammenzuarbeiten, ohne dein weit verstreutes Team persönlich zu treffen?

Das virtuelle Zusammenarbeiten ist zwar kein Idealzustand, aber ich glaube, wie viele von uns habe ich mich ganz gut ans Arbeiten im Virtuellen gewöhnt. Zwei meiner engsten Kolleginnen, Nivene Raafat und Ros Mendy, leben zum Beispiel in England. Obwohl wir uns bislang noch nicht in Person begegnet sind, gelingt es uns auch im Digitalen, kreativ, konstruktiv, wertschätzend und mit einer guten Dosis Humor zusammenzuarbeiten. Ganz genau so geht es mir bei uns im DVÜD. Ich hatte schon während meiner Zeit im Beirat den Eindruck, dass wir im Vorstand und Beirat ganz gut darin eingeübt sind, ein kollegiales Band zu knüpfen und die Ideen, Wünsche und Bedürfnisse unsere Mitglieder mit Elan aufzugreifen.

5. Wie können Mitglieder dich unterstützen? Was wünschst du dir, wer sollte sich fürs Team melden?

Im Vorfeld der Mitgliederversammlung habe ich viel mit meiner Familie darüber gesprochen, ob ich für das Amt des Präsidenten kandidieren sollte. Ich war mir unsicher: Bin ich dieser Rolle überhaupt gewachsen? Und: Kann ich ausreichend Zeit aufbringen? Wie sich herausstellte, waren das nur vorgeschobene Fragen. Mein eigentliches Dilemma hat unsere sechsjährige Tochter auf den Punkt gebracht: „Papa, du kannst doch gar nicht Präsident werden. Du hast gar keine Krawatte!“ Am Tisch beim Abendbrot ging es also plötzlich um einen ganz anderen Satz von Fragen: Müssen Menschen die richtigen Kleider tragen, um einer Aufgabe oder einem Amt gerecht zu werden? Oder kommt es nicht auf die Ideen an, die sie mitbringen, und die Portion Mut, für ihre Ideen einzustehen?

Ob diese kleine pädagogische Handreichung mittelfristig etwas beim Tochter-Kind bewirkt, wird sich zeigen. Ich weiß nur, dass sie mir Faust aufs Auge genau die Orientierung gegeben hat, die ich in dieser konkreten Situation gebraucht habe. Wenn ich das auf uns als Verband übertrage: Wir haben keinen Dress Code. Die besten Ideen wachsen im Zusammenspiel von Leidenschaft und gutem Austausch auf Augenhöhe – da entsteht die Art von Unterstützung, die uns als Verband im Engagement für unsere Mitglieder und für unsere Branche voranbringt. Will heißen: Ich freue mich über jede Person, die Freude daran hat, im Gespräch miteinander gute Ideen und Initiativen wachsen zu lassen.

6. Was motiviert dich ganz besonders?

Genau dieses Mehr-Augen-Prinzip (nennen wir’s spontan einfach mal so). Ich mag die Resonanz, die entsteht, wenn Menschen mit ganz unterschiedlichen Perspektiven und Erfahrungen zusammenfinden und einen offenen, konstruktiven Raum schaffen, um Ideen zu wälzen und wachsen zu lassen. Im Berufsalltag arbeiten viele von uns ja schon zu zweit im Team an Projekten. Das Engagement im Verband funktioniert für mich ganz analog dazu: Man feilt in unterschiedlichen Rollen gemeinsam auf Augenhöhe an guten Ideen.

7. Wo ziehst du im Ehrenamt deine Grenzen?

Die zieht der Alltag mit zwei noch relativ jungen Kindern. 😉

8. Was machst du, wenn du gerade nicht an DVÜD-Projekten mitwirkst?

Dann versuche ich, an der Erziehung der beiden Kinder mitzuwirken. 😉 Unsere Tochter ist seit dem Sommer Schulkind, da wachsen wir in der Familie also alle gerade in neue Rollen hinein. Und was den Broterwerb anbelangt – da gibt es ein, zwei Vorhaben, die ich noch nicht angegangen bin. Aber die werden vermutlich noch länger warten müssen. Die Priorität ist, die Bälle, mit denen wir als Familie jetzt schon jonglieren, weiter in der Luft zu halten. Was in diesen Jahren eine echte Herausforderung ist, wie alle wissen, die selbst Kinder in ihrem Umfeld haben!

Ansonsten nehme ich mir abends (inzwischen wieder öfters) Zeit, um in ein Buch abzutauchen oder mich unter meinen Kopfhörern zu vergraben. Oben auf der Leseliste: Johann Hari, „Abgelenkt. Wie uns die Konzentration abhandenkam und wie wir sie zurückgewinnen“ und Joseph Hellers Roman „Catch 22“. Und wenn die Lust auf Musik überwiegt, habe ich eine geteilte Playlist, ein wildes, genre-befreites Sammelsurium an Tracks, die ein guter alter Freund und ich uns gegenseitig vorstellen – von Gustav Holst und Jules Massenet über Lou Reed, David Crosby und The Alan Parsons Project bis hin zu Svaneborg Kardyb, Kae Tempest, Hak Baker, London Grammar, Tom Petty, Celeste und und und …

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