Prüfungen bestanden, wie geht es weiter?

„Hurra! Ich bin ein Übersetzer! Ich kann ab sofort als Übersetzer starten.“ So denkt man, wenn man seine Prüfung hinter sich hat. Stolz erzählt man Freunden und Bekannten davon und bittet darum, diese Information weiterzugeben. Eventuell ist auch die eigene Internetseite schon gemacht. Tage vergehen, aber das Telefon bleibt still, und das Postfach ist auch leer. Es stellt sich natürlich die Frage: Warum? Die Antwort liegt aber auf der Hand. Wie das alte Sprichwort sagt, wo der Pflug von Rost gefressen, wird sehr wenig Korn gegessen. So ist es auch in unserer Situation. Wer nicht aktiv wird und sich potenziellen Kunden nicht vorstellt, kann noch lange auf die Aufträge warten. Die Gewinnung von Neukunden beginnt damit, dass wir zunächst auf uns aufmerksam machen.

Was kann ich?

Bevor wir auf uns aufmerksam machen können, empfiehlt sich eine Ich-Analyse. Stell dir folgende Fragen:

  • Welche Sprachen sind meine Arbeitssprachen?
  • Was sind meine Fachkenntnisse?
  • Welche Qualifikationen habe ich?
  • Was sind meine persönlichen Stärken und Schwächen?
  • Welche Talente habe ich?
  • Welche zusätzlichen Leistungen kann ich anbieten (Lektorat, interkulturelle Beratung usw.)?
  • Wo liegen meine persönlichen Interessen?
  • Was für eine technische Ausstattung habe ich?
  • Habe ich Kooperationspartner?

Indem du diese Fragen beantwortest, findest du heraus, womit du dich von den anderen unterscheidest und dich von den anderen in der Übersetzerwelt abheben kannst (Spezialisierung). Denn wer die eigenen Möglichkeiten und Grenzen kennt und für sich selbst ein individuelles Persönlichkeits- und Tätigkeitsprofil vor Augen hat, kann seine Kunden gezielt beraten, sich selbst und seine Leistungen überzeugend präsentieren und somit auch eine angemessene Bezahlung erzielen.

Tipp: Bitte Menschen, die dich aus unterschiedlichen Perspektiven kennen (Freunde, Familie, Kollegen, Mentoren), um ein ehrliches Feedback zu deinen Stärken und Schwächen. Du wirst Neues über dich erfahren, und es wird dich beruflich voranbringen.

(Olga Müller, DVÜD)

Wer braucht das?

Sobald du dein Persönlichkeits- und Tätigkeitsprofil erstellt hast, schält sich heraus, wer deine Leistungen brauchen könnte, in welchem Bereich du deine Kunden suchen solltest und wer deine potenziellen Kunden sind. Doch deine Arbeit ist hier noch bei weitem nicht beendet. Nun musst du deinen Kundenkreis genauer definieren, indem du diesen entsprechend bestimmten Kriterien beschränkst:

  • Art des Auftragsgebers (z.B. Unternehmen Privatpersonen, Behörden, Gerichte, Verlage)
  • Größe des Auftragsgebers (z.B. Großindustrie, mittelständische Firmen)
  • Standort (regional oder international)
  • Budget der Kunden

Man unterscheidet zwischen Direktkunden und Agenturen. Zu Direktkunden gehören Unternehmen, Gerichte, Polizei, Verlage, Behörden, Privatpersonen. Zu den Vorteilen der Arbeit mit Direktkunden gehören vor allem ein abzugsfreies Honorar, das du selbst festlegst. Falls du Fragen zum Originaltext hast, steht der Kunde dir als direkter Ansprechpartner zur Verfügung. Bei der Arbeit für Gerichte und Behörde ist das Honorar durch JVEG bereits festgelegt, deswegen hast du keinen Zeitaufwand für die Preisverhandlungen.

Zielgruppe Unternehmen

Falls du ein großes Unternehmen als Kunden gewinnst, hast du mit Preisdruck und knappen Lieferfristen zu tun. Denn je größer das Unternehmen ist, desto mehr Preisdruck wird aufgebaut und desto kürzer sind die Abgabefristen. Mittelständische Unternehmen legen oft Wert auf persönlichen Service und sind somit bereit, gute Qualität fair zu bezahlen. Bei der Arbeit mit Direktkunden wie Unternehmen (B2B) muss dir bewusst sein, dass dich ein erhöhter Arbeitsaufwand (Erstellung von Angeboten, Rechnungen, Mahnungen usw.) erwartet. Bei der Zusammenarbeit im B2B-Bereich solltest du dich als zuverlässigen, mitdenkenden Geschäftspartner für den gelungenen Markteinstieg in einem anderen Kultur- und Sprachraum verstehen. Deine Sorgfalt soll der Firma gute Gewinne bescheren, Stolperfallen ersparen, für Rechts- und Produktsicherheit sorgen und positive Geschäftsbeziehungen ermöglichen. Denke nicht an “Wie viele Wörter schaffe ich bis wann?”, sondern an: “Wozu und bis wann braucht mein Kunde diesen Text, und wie kann ich ihn optimal unterstützen?” Dazu wirst du wahrscheinlich Kollegen einbeziehen (und einkalkulieren!) müssen, die deine Texte Korrektur lesen, einspringen, wenn du auf Urlaub gehst (oder krank wirst) oder bei Zeitdruck mithelfen. B2B bedeutet Teamarbeit.

Zielgruppe Agenturen

Wer sich für die Arbeit mit Agenturen entscheidet, muss mit einem niedrigeren Honorar rechnen. Dafür kannst du aber als Berufsanfänger Erfahrungen sammeln. Dadurch, dass die Akquise durch Agenturen betrieben wird, entstehen dir auch keine bzw. geringere Akquisitionskosten. Du musst auch das Korrekturlesen nicht selbst organisieren, und mitunter arbeitest du direkt auf den Servern der Agenturen bzw. Endkunden, brauchst also nicht einmal eigene Software. Du kannst auf die Vorarbeit anderer zurückgreifen, aber auch das von dir erarbeitete Wissen fließt direkt in die Projekte ein, und du kannst für andere Aufträge nicht mehr darauf zugreifen.

Und du führst keine Verhandlungen mit den Kunden, das machen Agenturen für dich. Zu den Vorteilen der Arbeit mit Agenturen zählt unter anderem, dass sie an Aufträge kommen, die du als Einzelkämpfer vermutlich nicht bekommen würdest. Großunternehmen und Weltkonzerne beauftragen häufig Agenturen, weil sie Rundumservice bevorzugen und sich nicht darum bemühen möchten, die passenden Einzelübersetzer zu finden.

Tipp: Auch eine Konkurrenzanalyse könnte hilfreich sein.

(Olga Müller, DVÜD)

Fazit

Alle oben genannten Kriterien spielen eine große Rolle bei der Identifizierung deiner Zielgruppe. Es ist ratsam, sich eine gesunde Mischung aus Direktkunden und Agenturen aufzubauen, um die Abhängigkeit von einem Kunden (somit die Scheinselbstständigkeit) zu vermeiden. Zudem kann der Endkunde natürlich jederzeit von einer Agentur abwandern, ohne dass du darauf Einfluss hast. Natürlich nimmt es eine gewisse Zeit in Anspruch, bis du deine Zielgruppe gefunden hast. Um diesen Weg zu meistern, brauchst du Fähigkeiten wie Ausdauer, Flexibilität, Leidenschaft, Kreativität und Mut. Wichtig zu wissen: Ohne genau zu wissen, was du kannst (und was du bereitwillig dazulernen kannst), ist eine erfolgreiche Kundengewinnung überhaupt nicht möglich.

Olga Müller, allgemein beeidigte Dolmetscherin und ermächtigte Übersetzerin für Russisch (Oberlandesgericht Koblenz), ist seit 2020 Mitglied des DVÜD. Sie übersetzt russische und deutsche Texte in den Fachbereichen Wirtschaft, Recht, Immobilien.

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