Agenturen verlangen von neu zu listenden Freiberuflern gerne Probeübersetzungen, oft auch noch kostenlos. Während einerseits dieses Ansinnen aus Sicht des Auftraggebers durchaus sinnvoll erscheint, dürfte es in der Praxis wohl niemandem wirklich nützen. Aber es gibt nicht nur die Sichtweise des Auftraggebers, sondern auch die Sichtweise des Auftragnehmers, die sich in dieser Angelegenheit diametral gegenüberstehen. Und was ist mit der Sichtweise des Endkunden? Doch beginnen wir mit dem Standpunkt des Auftraggebers. Was will dieser erreichen? Bei dieser Gelegenheit werden wir auch direkt darauf eingehen, ob das jeweilige Ziel tatsächlich erreichbar ist oder nicht.

Risikominimierung

Das gesamte Thema Probeübersetzung steht unter dem Aspekt der Risikominimierung. Das heißt, jeder Auftraggeber ist auf der Suche nach dem besten Auftragnehmer. Natürlich gibt es nicht den objektiv besten, sondern nur den für eine bestimmte Aufgabe subjektiv besten Auftragnehmer. Mit einer Probeübersetzung soll nun eine Vorauswahl getroffen werden, um z. B. Reklamationen zu vermeiden. Denn jeder Aufwand, der über Auftragsvergabe, Lieferung, Prüfung, Akzeptanz hinausgeht, kostet unbestreitbar Geld. Ebenso gibt es im Zuge des globalen Wettbewerbs sicherlich auch Menschen, die sich für Übersetzer halten, die aber die hohen Anforderungen an diesen Beruf nicht einmal im Ansatz erfüllen. Hier gilt es sicherlich, das Risiko so weit wie möglich zu minimieren, indem man sich wirklich nur qualifizierte Übersetzer an Bord holt. Aber gehört nicht ein gewisses Risiko auch gerade zum Unternehmertum dazu? Ist nicht die wirtschaftliche Zukunft all derjenigen, die nicht in der Lage sind, ein gewisses Risiko abzufedern, fragwürdig? Und was ist mit den sogenannten Opportunitätskosten? Setzt sich derjenige, der im Rahmen des Risikominimierungsprozesses einen potentiellen neuen Übersetzer aussortiert, nicht dem Risiko aus, genau diesen Übersetzer eines Tages zu brauchen, weil dieser Übersetzer genau der richtige für ein bestimmtes Projekt wäre?

Qualitätssicherung

Der zweite Aspekt ist sicherlich die Qualitätssicherung, d. h. anhand der Probeübersetzung sollen bestimmte Qualitätsmerkmale des potentiellen neuen Übersetzers geprüft werden. Doch genau diese Qualitätsmerkmale sind im Rahmen einer Probeübersetzung nicht wirklich sicher zu überprüfen. Zwar mag es Kollegen geben, denen die Qualitätssicherung hinsichtlich Grammatik, Orthografie und Zeichensetzung schwerfällt, aber wir Übersetzer sind auch nur Menschen und Menschen machen Fehler. Diese Fehler können viele Ursachen haben. Aber was macht Homo Sapiens Translatoris in dem Bewusstsein, dass es sich um eine Probearbeit handelt, die darüber entscheidet, ob er Aufträge bekommt oder nicht? Genau, er gibt sich besondere Mühe, feilt hier, schleift da, recherchiert dieses, korrigiert jenes. Das Ergebnis dürfte daher in vielen Fällen wenig repräsentativ für die tatsächliche Arbeit des Kandidaten sein.

Korrekte Übersetzung und Stil

Über die Grammatik, Orthografie und Zeichensetzung hinaus gibt es natürlich auch objektive Fälle, in denen eine Übersetzung tatsächlich falsch ist. Aber genauso gibt es oft auch mehrere Möglichkeiten einer Übersetzung. Für den einen ist diese Übersetzung korrekt, für den anderen jene. Das heißt, in vielen Fällen liegt es im Auge des Lesers, ob eine Übersetzung korrekt ist oder nicht. Ein Übersetzer kann nicht vorhersehen, was sein Leser als korrekt empfindet und was nicht. Er kann nur beurteilen, was er als korrekt empfindet und nur das kann er auch schreiben.

Ähnlich verhält es sich mit dem Stil eines Textes. Schreibstile gibt es so viele, wie es Schreiber gibt. Natürlich gibt es für bestimmte Textarten bevorzugte Stile (siehe z. B. juristische Texte oder aber Bedienungsanleitungen), aber diese Vorgaben werden immer mehr aufgeweicht. Und für viele andere Textarten gelten gar keine Vorgaben. Hier liegt der richtige Stil wieder im Auge des Lesers und ist damit sehr individuell. Das heißt, die Beurteilung des richtigen Stils liegt einerseits in der Frage, ob es für eine bestimmte Textsorte eine Stilvorgabe gibt, viel mehr aber noch, ob der geschriebene Stil den Vorlieben des Lesers entspricht. Das heißt, der Prüfer einer Probeübersetzung steckt hier in einer Zwickmühle. Entweder er beurteilt nach seinen Vorlieben und läuft damit Gefahr, die Vorlieben des Kunden nicht zu treffen, oder er muss über beinahe hellseherische Fähigkeiten verfügen, um zu antizipieren, welcher Kunde jetzt welche Übersetzung und welchen Stil bevorzugen könnten oder er muss jeden einzelnen Kunden unheimlich gut kennen. Eine äußerst schwierige Aufgabe.

Termintreue

Gerne werden auch für Probeübersetzungen bereits Fristen gesetzt, weil Termintreue in unserer Branche schon sehr wichtig ist. Auf diese Weise soll getestet werden, wie der potentielle neue Übersetzer mit Termindruck umgeht. Doch auch hier gilt: Der Übersetzer, der sich neue Aufträge verspricht, wird sich jede erdenkliche Mühe geben, den Termin einzuhalten. Eine Aussagekraft für das künftige Verhalten besteht auch in diesem Fall so gut wie gar nicht.

Beurteilung der Fähigkeiten des Übersetzers

Ein Projektmanager oder Human Resources Manager möchte die in jahrelanger Ausbildung und jahre- oder gar jahrzehntelanger Erfahrung erworbenen Fähigkeiten eines Übersetzers anhand eines willkürlich ausgewählten, nur wenige hundert Wörter langen Textes beurteilen. Die Sinnhaftigkeit dieses Ansinnens entspricht in etwa dem, von einem Schreiner zu verlangen, von einer Latte ein Stück abzusägen und daraus erkennen zu wollen, ob er einen Schrank bauen kann.

Kostenminimierung durch kostenlose Probeübersetzung

Die Logik, warum Agenturen Probeübersetzungen nur sehr ungerne bezahlen möchten, ist recht simpel und nachvollziehbar. Diesen Kosten stehen nur sehr selten direkte Erträge gegenüber. Wenn es keine Rechnung gibt, fallen keine Kosten an, die den Gewinn senken könnten. Dementsprechend wirken kostenlose Probeübersetzungen auch nicht steuersenkend. Allerdings können die eingesparten Kosten gegen die Steuerlast gerechnet werden, wodurch ein Gewinn entsteht. Daher argumentieren Auftraggeber gerne auch mal mit Kosten für die Prüfung einer Probeübersetzung. Dieser Aufwand ist für uns nicht nachprüfbar, kann aber durchaus in einem Bereich zwischen „Null = Ablage ohne weitere Betrachtung, Hauptsache die Formalie ist erfüllt“ bis hin zu „sehr relevanter Aufwand“ gehen. Angesichts vieler hundert Bewerbungen, die eine Agentur jedes Jahr bekommt, ist es aber schon legitim, anzunehmen, dass die Prüfung innerhalb weniger Minuten abgeschlossen ist.

Gehen wir jetzt mal zur Warte des Übersetzers über

Probearbeiten – üblich oder nicht?

In welcher anderen Branche sind Probearbeiten üblich? Kann ich einen Handwerker, einen Ingenieur, einen Anwalt, einen Arzt bitten, mir eine Probe seiner Arbeit zu liefern? Nein? Also warum gerade beim Übersetzer?

Hat ein Übersetzer sowas nötig?

Ein qualifizierter Übersetzer hat eine jahrelange Ausbildung durchlaufen, so mancher hat sogar in einem jahrelangen Studium ein Diplom, einen Bachelor, einen Master erworben. Hinzu kommt eine jahre- oder jahrzehntelange Erfahrung. Muss der Übersetzer seine Qualifikation da noch in irgendeiner Form nachweisen? Muss sich ein in dieser Weise qualifizierter Übersetzer noch der Beurteilung seiner Qualifikation einem Menschen unterwerfen, von dem er selbst die Qualifikation zur Beurteilung der Qualifikation gar nicht kennt? Anders ausgedrückt: Wäre es nicht sinnvoll, wenn der Beurteilende dem Beurteilten erstmal die eigene Qualifikation nachweist?

Kann sich der Übersetzer eine kostenlose Probeübersetzung leisten?

Ein vorrangiges Ziel der Arbeit eines Selbstständigen ist, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, mit anderen Worten, er will Gewinn erwirtschaften. Manchmal sind auch Investitionen nötig, um später Gewinne zu erzielen. Insofern kann eine kostenlose Probeübersetzung als Investition betrachtet werden. Das Ganze hat nur einen Haken: Da es keinen Beleg (vulgo: keine Rechnung) über diese Investition gibt, kann sie nicht in die Kosten einfließen und wirkt somit nicht steuersenkend. D. h. eine kostenlose Probeübersetzung ist nicht nur ein Verlust an Einnahmen, sondern auch noch ein Verlust an Steuern. Der Übersetzer wird also für eine kostenlose Probeübersetzung gleich zwei Mal zur Kasse gebeten.

Welches Risiko trägt der Übersetzer noch?

Da ist einmal der Aufwand, den der Übersetzer betreibt, um bei der Agentur gelistet zu werden. Allein das Ausfüllen von Formularen zur Qualifikation, entweder im MS-Office-Format oder auch online, sowie das Lesen und Verstehen der Einkaufsbedingungen kann schon mal eine Stunde oder länger dauern. Dazu kommt dann noch der Aufwand für die Probeübersetzung. Dieser Aufwand bleibt das alleinige Risiko des Übersetzers durch Verlust an Einnahmen und Steuern, denn es gibt keinerlei Garantie, dass selbst auf eine bestandene Probeübersetzung dann auch tatsächlich Aufträge folgen.

Viele Übersetzer führen gern das Risiko an, dass sich Agenturen auf dem Wege kostenloser Probeübersetzungen kostenlose Dienstleistungen einkaufen könnten. Natürlich mag es schwarze Schafe auf dem Markt geben. Bei genauerer Betrachtung ist dieses Risiko aber eher gering. Zum einen ist der damit erzielbare Umsatz einfach viel zu niedrig. Eine kleine Beispielrechnung: 1 000 Bewerber pro Jahr, 250 Wörter pro Probeübersetzung, 10 ct pro Wort im Verkauf = 25.000 Euro Umsatz. Das ist für ein etabliertes Unternehmen vielleicht ein ganz nettes Zubrot, sollte aber bei ebensolchen Unternehmen nur einen kleinen Anteil am Gesamtumsatz ausmachen. Ganz abgesehen davon dürfte bei Agenturen, die es tatsächlich nötig hätten, so zu arbeiten, weder die Zahl von 1 000 Bewerbern noch der Preis von 10 ct pro Wort erreicht werden. Für größere Projekte ist diese Vorgehensweise sogar äußerst ungeeignet, da abschließend alle Probeübersetzungen zusammengeführt und durch ein ausgiebiges Lektorat abgeglichen werden müssen. Jeder Übersetzer weiß, dass das schon bei zwei bis drei Übersetzern schwierig sein kann, um wie viel schwieriger ist es dann erst bei vielleicht zwanzig oder dreißig! Wird dieser Prozess zwecks Einsparung von Kosten weggelassen, stellt der Kunde sehr schnell eine mindere Qualität fest und erteilt keine weiteren Aufträge.

Das letzte Risiko, das dem Übersetzer bleibt, ist die Frage nach dem Zahlungsverhalten des Auftraggebers, denn egal wie aufwändig das Aufnahmeprozedere ist, garantiert es dem Übersetzer nicht, dass die Zahlung seiner Rechnungen pünktlich erfolgt.

Fazit

Bei Betrachtung des Vorgenannten ergibt sich eigentlich, dass eine Probeübersetzung der Agentur nicht nutzt und dem Übersetzer in seiner unternehmerischen Tätigkeit sogar schadet. Solange aber Agenturen die Praxis von Probeübersetzungen aufrechterhalten, wird dem Übersetzer wohl nichts anderes übrig bleiben, als die Probeübersetzungen zu liefern, da sonst in der Regel der Listungsprozess an diesem Punkt abgebrochen wird. Würden sich andererseits mehr Übersetzer weigern, Probeübersetzungen abzuliefern, wäre dieses Thema bald keines mehr.

Vielleicht könnten Übersetzer bei der nächsten Bitte um eine Probeübersetzung ohne Gegenleistung auch einfach mal statt der Bezahlung der Probeübersetzung die Überweisung einer Summe X ohne Gegenleistung erbitten. So hat der Auftraggeber die Möglichkeit, die Qualität des Übersetzers unverbindlich zu testen und der Übersetzer kann ebenso unverbindlich das Zahlungsverhalten testen.

Natürlich bleibt für eine Agentur immer ein Risiko erhalten, aber dieses Risiko bleibt, egal ob der Übersetzer eine Probeübersetzung liefert oder nicht. Allerdings birgt jede Geschäftsbeziehung immer ein gewisses Risiko. Doch in einer Geschäftsbeziehung auf Augenhöhe sind diese Risiken immer einigermaßen gleichmäßig verteilt und nicht überwiegend auf den Schultern einer Partei. Ebenso basiert eine Geschäftsbeziehung immer auch auf gegenseitigem Vertrauen. Das Vertrauen, das mir entgegengebracht wird, gebe ich gleichermaßen zurück, ich erwarte aber auch, dass das Vertrauen, das ich jemandem entgegenbringe, auch mir zurückgegeben wird. So entsteht eine Geschäftsbeziehung, von der alle Seiten noch auf Jahre hinaus profitieren können.

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