Die Teilnehmer/innen und Mentor/innen des Hieronymus-Programms 2018 (von links nach rechts, hintere Reihe zuerst): Thomas Brovot (Seminarleiter), Claudia Voit, Marlene Fleißig, Isabelle Brandstetter, Luisa Maria Schulz, Barbara Schimmack, Cornelia Holfelder-von der Tann (Mentorin), Carla Hegerl, Franziska Hüther, Andreas Tretner (Mentor), Marie-Theres Cermann, Max Schönherr, Ruth Löbner, Maike Dörries (Mentorin), Marianne Gareis (Mentorin), Bettina Bach (Mentorin) Tobias Roth (Mentor), Laura Haber und Ilona Zuber (Foto: EÜK Straelen)

Gefördert vom Deutschen Übersetzerfonds wohnten und arbeiteten vom 15. bis zum 22. April 2018 zwölf Nachwuchs-Literaturübersetzer/innen, sechs Mentor/innen und Seminarleiter Thomas Brovot im Europäischen Übersetzer-Kollegium (EÜK) in Straelen, Nordrhein-Westfalen. Isabelle Brandstetter war eine der Teilnehmer/innen und fasst für den DVÜD das Erlebte und Gelernte zusammen.

Ankommen, wohlfühlen, loslegen

Von nah und fern angereist, waren am Sonntagnachmittag um kurz vor drei alle Teilnehmer/innen des Hieronymus-Programms 2018 im EÜK eingetroffen.

S ist Abend, und des Himmels Schein
Spielt um Westfalens Eichenhain,
Gibt jeder Blume Abschiedskuß,
Und auch dem Weiher linden Gruß
Annette von Droste-Hülshoff
Wer eine Einschlafhilfe brauchte oder einfach mal was Neues lesen wollte, wurde schon im eigenen Zimmer fündig.
(Foto: Isabelle Brandstetter)

Der Empfang durch die Leiterin Frau Peeters war so herzlich, dass sich meine anfängliche Nervosität sofort in (nach Büchern duftende) Luft auflöste. Sie ging über in schiere Begeisterung ob der besonderen Architektur des aus sechs miteinander verbundenen, zum Teil denkmalgeschützten ehemaligen Wohnhäusern bestehenden Übersetzer-Kollegiums: Auf über 2500 Quadratmeter gibt es kleine und große Appartements, verschiedene Bibliotheks- und Tagungsräume, gemütliche Lese- und Arbeitsecken, zwei helle Küchen und Speisezimmer – und natürlich unzählige Bücher in fast allen Sprachen der Welt. (Ich denke, bei einer über 125.000-bändigen Bibliothek ist das Wort „unzählig“ gerechtfertigt.)

Einige der Teilnehmer/innen waren sich schon bei anderen Veranstaltungen über den Weg gelaufen oder hatten sich zufällig online kennengelernt, sodass schnell eine entspannte, fast familiäre Atmosphäre entstand. Nachdem wir durch das Haus und auf unsere Zimmer geführt worden waren – ich wohnte in Zimmer 27 mit Literatur deutschsprachiger Autoren von C bis D, Annette von Droste-Hülshoff wachte zuverlässig über meinen Schlaf –, ging es auch schon an die Vorstellungsrunde, das Kennenlernen der Mentor/innen, die Vorbesprechung des Seminars und die erste konkrete Textarbeit.

Arbeiten, essen, austauschen

Die Seminarwoche war genau durchstrukturiert, was angesichts der vielen Programmpunkte nur sinnig war. Nach dem vorzüglichen Frühstück im Speiseraum standen an den Vormittagen immer zwei der Texte im Vordergrund, mit denen die Teilnehmer/innen sich für das Hieronymus-Programm beworben hatten. Es waren die unterschiedlichsten Gattungen vertreten – natürlich Prosa, aber auch Lyrik, Kinder- und Jugendliteratur, ein Theaterstück und ein literarisches Sachbuch – und es wurde aus zehn Sprachen übersetzt: Englisch, Spanisch, Galicisch, Französisch, Italienisch, Russisch, Slowakisch, Niederländisch, Dänisch und Schwedisch.

In den anderthalb Stunden Textarbeit pro mitgebrachter Übersetzung (maximal zehn Normseiten) wurde der Ausgangstext kurz vorgestellt sowie ein Ausschnitt daraus vorgelesen und wir sammelten Eindrücke zum Stil, zur Wirkung und zu den „Stolperstellen“ der Übersetzung. Dabei deckten die Mentor/innen viele Fallen auf, in die beginnende Literaturübersetzer ganz sprachen- und genreübergreifend gerne mal tappen, und gaben uns eingängige Tipps: als Übersetzer nicht unnötig den Erklärbär spielen – gerade bei anspruchsvoller Prosa gibt man dem Leser der Übersetzung oft unbewusst mehr Hilfestellungen, als es das Original beabsichtigt –, und abwechselnd Nähe und Distanz zum eigenen Text gewinnen, um ihn aus unterschiedlichen Perspektiven wahrzunehmen und so Verbesserungsmöglichkeiten aufzudecken.

Mentorentipp: Als Übersetzer nicht unnötig den Erklärbär spielen.

Nach drei Stunden intensiver Textarbeit rauchten die Köpfe und knurrten die Mägen – höchste Zeit fürs Mittagessen, und das lässt im EÜK wirklich nichts zu wünschen übrig: Jeden Tag gab es ein reichhaltiges Buffet mit Salaten, Beilagen, warmen Häppchen und natürlich mehr als genug Nachtisch. Der gemütliche Speiseraum und der kleine Garten dahinter luden dazu ein, nach dem Mittagessen noch ein wenig sitzen zu bleiben und sich zu unterhalten. Die Gespräche mit den Mentor/innen, die offen über ihren Arbeitsalltag und die Zusammenarbeit mit Lektoren und Autoren erzählten, waren für uns genauso lehrreich wie die gemeinsame Textarbeit.

Die intensive Arbeit an einem schwierigen Text kann eine sehr ernste Angelegenheit sein …
(Foto: EÜK Straelen)

… aber auch immer wieder für unerwartete Lacher sorgen.
(Foto: EÜK Straelen)

Nachmittags hatten wir Gelegenheit, die Texte für die kommenden Tage vorzubereiten, aber es war auch ausreichend Zeit, den grauen Zellen eine Pause zu gönnen und zur Ruhe zu kommen: bei einem Spaziergang durch Straelen, beim Bahnenziehen im örtlichen Schwimmbad, bei einer kleinen Tour auf den EÜK-eigenen Fahrrädern oder beim Dösen auf den Liegestühlen in der warmen Frühlingssonne. Das Abendessen fand jeden Tag auswärts statt, abwechselnd in vier der vielen Gaststätten Straelens. Wir genossen es, uns ganz auf das Seminar konzentrieren zu können, statt uns nebenbei noch wie gewohnt um den Haushalt und das Kochen kümmern zu müssen. Auch abends wurde es nicht langweilig beim gemütlichen Zusammensitzen und Kennenlernen der anderen Gäste des EÜK.

Erkunden, feiern, lernen

Das Hieronymus-Programm richtet sich an „Übersetzer ins Deutsche, die noch keine oder nur geringe Publikationserfahrung haben“. Wir Teilnehmer/innen hatten also alle gemein, dass wir noch keinen Stapel an publizierten Literaturübersetzungen auf unserem Namen haben. Trotzdem konnten wir aufgrund unserer unterschiedlichen Hintergründe und Erfahrungen nicht nur von unseren Mentor/innen, sondern auch von einander sehr viel lernen.

Am Mittwochnachmittag nutzten die meisten Teilnehmer/innen die sommerlichen Temperaturen voll aus und machten eine Radtour über die niederländische Grenze.
(Fotos: Isabelle Brandstetter)

Aber so ein Austausch muss ja nicht nur am Schreibtisch stattfinden! Also schwangen sich die meisten von uns am freien Mittwochnachmittag aufs Fahrrad und radelten bei schönstem Wetter in die zehn Kilometer entfernte niederländische Kleinstadt Venlo, wo Eis gegessen und Sonne getankt wurde. Nach dem Abendessen fanden wir einen Grund, die Korken knallen zu lassen: zehn Jahre Hieronymus-Programm mit Thomas Brovot als Seminarleiter und 40 Jahre Europäisches Übersetzer-Kollegium in Straelen. Auf ein schwedisches Trinklied und das Anstoßen auf Thomas folgte eine kurzfristig organisierte Lesung aus selbst geschriebenen und selbst übersetzten Texten – nichts Unübliches im EÜK und immer wieder ein voller Erfolg.

Das Hieronymus-Programm richtet sich an „Übersetzer ins Deutsche, die noch keine oder nur geringe Publikationserfahrung haben“.

Man lernt bekanntlich ein Leben lang, aber selten ist es in nur sieben Tagen so viel wie beim Hieronymus-Programm. Neben der Textarbeit in der Gruppe und mit den Mentor/innen gab es nämlich auch mehrere Vorträge und Übungen zum Übersetzerhandwerk sowie zu Berufspraktischem. So zeigte uns Frau Peeters, wo man in der Bibliothek des EÜK welche Nachschlagwerke findet – je nach Bedarf zum Schiffsbau im Mittelalter, zur Knastsprache in der DDR oder zu modernen Kamasutra-Vorrichtungen –, gab uns Lektorin Ulrike Ostermeyer einen Einblick in die Zusammenarbeit zwischen Verlagen und Übersetzern und redete Thomas Brovot Klartext über Urheberrecht, Verträge und Finanzen. Bei so viel Input war es kein Wunder, dass sich einige von uns zum Ende der Woche hin ein paar freie Tage zum Verarbeiten der vielen Informationen wünschten.

Weitergeben, anstecken, wiederkommen

Am Sonntagvormittag, nachdem uns Jürgen Jakob Becker von Deutschen Übersetzerfonds weitere Fördermöglichkeiten für Literaturübersetzer vorgestellt hatte, war es Zeit für eine Schlussbesprechung. Im Fazit meiner Hieronymus-Kollegin und Freundin Ruth Löbner konnten sich die meisten wiederfinden: „Vorher hatte ich das Gefühl, ich übersetze. Jetzt habe ich das Gefühl, ich bin Übersetzerin.“

„Vorher hatte ich das Gefühl, ich übersetze. Jetzt habe ich das Gefühl, ich bin Übersetzerin.“ (Ruth Löbner)

Kritik gab es keine, und nur wenige Verbesserungsvorschläge: etwas kürzere Texte zur Vorbereitung, da in den anderthalb Stunden Gruppendiskussion pro Text nicht auf alle relevanten Details eingegangen werden kann, und das Lob für besonders gut übersetzte Passagen nicht vergessen. Beim letzten gemeinsamen Mittagessen wurden schon Pläne für ein baldiges Wiedersehen der Seminarteilnehmer/innen geschmiedet  – ein weiteres Mal im EÜK in Straelen, bei einem Seminar im Literarischen Colloquium Berlin, bei der VdÜ-Jahrestagung in Wolfenbüttel oder bei einer anderen Gelegenheit in einer der vielen Übersetzerhochburgen Deutschlands. Wir waren uns alle einig: Das Hieronymus-Programm war ein großartiges, intensives, nachhaltiges und ja, auch anstrengendes Erlebnis, von dem wir viel mitnehmen konnten.

Wie lautet also die Schlussfolgerung für alle motivierten Nachwuchs-Literaturübersetzer, die (noch) nicht am Hieronymus-Programm oder einer ähnlichen Veranstaltung teilgenommen haben? Macht euch schlau, traut euch was und bewerbt euch! Ein Blick auf das Seminar- und Förderangebot für Literaturübersetzer ins Deutsche lohnt sich wirklich: Sowohl die Akademie der Übersetzungskunst des Deutschen Übersetzerfonds als auch das Europäische Übersetzer-Kollegium selbst bieten ein breites Weiterbildungsprogramm und informieren auf ihren Websites ausführlich über Stipendien und Arbeitsaufenthalte.

Schlussfolgerung für alle motivierten Nachwuchs-Literaturübersetzer: Macht euch schlau, traut euch was und bewerbt euch!

Ganz neu, seit Januar 2018, gibt es TOLEDO – Übersetzer im Austausch der Kulturen, ein Förderprogramm der Robert Bosch Stiftung und des Deutschen Übersetzerfonds, das auf europäischer Ebene agiert. Denn trotz der vielen Möglichkeiten in Deutschland lohnt sich der Blick über die Landesgrenzen: Gerade für Übersetzer ins Deutsche gibt es in den Ländern der Ausgangssprachen oft spannende Fördermöglichkeiten. Auf der Website des VdÜ findet man eine praktische Übersicht von Übersetzerkollegien und -häusern, hauptsächlich in Europa, und auch der Internetauftritt des Verbunds RECIT, dem Netzwerk europäischer Übersetzerzentren, ist einen Besuch wert. Informationen zu Arbeitsaufenthalten, Stipendienvergaben und Bewerbungsvoraussetzungen sowohl für beginnende als auch erfahrene Literaturübersetzer sind also nur ein paar Klicks entfernt – und das sollten wir nutzen, um immer wieder und mit Begeisterung fürs Literaturübersetzerleben zu lernen!

Mit vollgeschriebenen Notizbüchern, vielen Informationen zu weiteren Förderungsmöglichkeiten und neuen Ideen im Kopf ging es am 22. April wieder nach Hause.
(Foto: Isabelle Brandstetter)

Unsere Gastautorin Isabelle Brandstetter ist freiberufliche Übersetzerin aus dem Englischen und Niederländischen ins Deutsche. Sie übersetzt hauptsächlich Marketingtexte aus den Bereichen Tourismus, Kultur und Sport, aber auch immer öfter Literatur. Als Beirätin des DVÜD macht sich Isabelle vor allem für Berufseinsteiger/innen und Studierende in unserer Branche stark. Auf ihrer Website und auf Facebook informiert sie über ihre Arbeit und über Wissenswertes aus der Welt der Sprachdienstleister.

 

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