In der zweiten Hälfte 2022 wurde in der Öffentlichkeit wiederholt über die geplante EU-Richtlinie zur Plattformarbeit diskutiert. Auch Mitglieder haben uns hierzu kontaktiert. 

Da manche Branchen ein „Ende der Selbstständigkeit“ (für Einzelunternehmer bzw. für Gründende mit einem noch überschaubaren Kundenstamm) befürchteten, hat der DVÜD die verschiedenen Entwurfsstadien aufmerksam beobachtet, um bei Bedarf gezielt unsere Bedürfnisse als freiberufliche Wissensarbeiter in die Diskussion einzubringen. 

Was bedeutet „Plattformarbeit“? 

Das Grundanliegen des EU-Vorstoßes war und ist eine Regulierung von digitalen Arbeitsplattformen. Die öffentliche Debatte dreht sich häufig um Unternehmen wie Uber, Lieferando, Wolt, oder Helpling, die in den vergangenen Jahren einen immensen Aufschwung erlebt haben. Mit der neuen Richtlinie zur Plattformarbeit möchte die EU die Arbeitsbedingungen für diejenigen verbessern, die für diese Unternehmen tätig sind. Existierende Regelungen gibt es kaum, wie das Projekt „Mapping Platform Economy“ der Friedrich-Ebert-Stiftung verdeutlicht: Was genau eine digitale Plattform ist, haben erst sieben Länder per Gesetz definiert; lediglich drei Länder führen überhaupt ein Plattform-Register, um konkrete Zahlen über die Größe des Sektors erheben zu können. In manchen Staaten existieren bereits kollektiv verhandelte Vereinbarungen zwischen Plattformarbeiter:innen und Unternehmen oder konkrete Regelungen zum Arbeitsschutz. Der Angestelltenstatus wurde ihnen allerdings erst in zwei Staaten zugesprochen. 

Weil zahlreiche Gerichte europaweit aber inzwischen anders geurteilt haben, nimmt sich die Plattform-Richtlinie das spanische, 2021 verabschiedete Rider-Gesetz zum Vorbild und fragt: Wie lässt sich regeln, ob die Menschen, die für digitale Plattformen arbeiten, als Angestellte oder als Selbstständige einzustufen sind? Das Novum am Entwurf (und seinem spanischen Vorgänger): Er geht davon aus, dass Menschen, die für digitale Plattformen tätig werden, grundsätzlich den Status von Beschäftigten haben. Wer tatsächlich selbstständig für Plattformen arbeitet, soll das weiterhin dürfen – aber um das bisherige Machtungleichgewicht aufzulösen, fällt es jetzt den Plattformen zu, diese Beschäftigungsvermutung zu widerlegen und zu beweisen, dass die für sie tätigen Menschen tatsächlich als Selbstständige arbeiten. Und widerlegen kann die Plattform die Vermutung nur, wenn sie die im Entwurf festgelegten Kriterien erfüllt.

Das Vorhaben bringt natürlich einige Herausforderungen mit sich. Um effektive Regeln einzuführen, muss die Richtlinie klar abstecken,

  • was eine digitale Plattform ist und
  • wann und auf welche Weise eine digitale Plattform so viel Kontrolle und Weisung ausübt, dass die für sie tätigen Menschen faktisch als Angestellte anzusehen sind.

Weil Weisung und Kontrolle inzwischen auch über Algorithmen erfolgen können, enthält der Entwurf ein gesondertes Kapitel zum Thema algorithmisches Management, d. h. zu automatisierten Überwachungs- und Entscheidungssystemen – gesondert deshalb, weil nicht jede digitale Arbeitsplattform automatisierte Überwachungs- und Entscheidungssysteme nutzt, und nicht jedes Unternehmen, das automatisierte Überwachungs- und Entscheidungssysteme einsetzt, zwangsläufig eine digitale Arbeitsplattform sein muss.

Wie lauten die aktuellen Kriterien? 

Laut § 2 Abs. 1 des aktuellen Entwurfs wird ein Unternehmen dann als digitale Plattform eingestuft, wenn es kommerzielle Dienstleistungen erbringt, die drei Anforderungen erfüllen:

  • Die Dienstleistungen werden zumindest teilweise auf elektronischem Wege, z. B. über eine Website oder eine mobile Anwendung, aus der Ferne bereitgestellt.
  • Sie werden auf Verlangen eines Empfängers der Dienstleistung erbracht oder auf Grundlage einer offenen Ausschreibung zugewiesen.
  • Sie umfassen die Organisation der von Einzelpersonen geleisteten Arbeit, unabhängig davon, ob diese Arbeit online oder an einem bestimmten Ort ausgeführt wird, und unabhängig davon, wie die beteiligten Parteien das Vertragsverhältnis zwischen dieser Person und der digitalen Arbeitsplattform vertraglich definieren.

Das ist eine ausgesprochen weiche Definition. Als Übersetzer:innen und Dolmetscher:innen erbringen wir den Großteil unserer Leistungen auf elektronischem Weg und müssen dabei auch die Zusammenarbeit mit Kolleg:innen organisieren. Macht uns das deshalb alle zu Plattform-Unternehmen?

Zur Klärung heißt es im Richtlinien-Entwurf in § 3 Abs. 2 zur korrekten Bestimmung des Beschäftigungsstatus: „Die Feststellung, ob ein Arbeitsverhältnis besteht, stützt sich in erster Linie auf die Tatsachen, die sich auf die tatsächliche Arbeitsleistung beziehen, wobei die Verwendung von Algorithmen bei der Organisation der Plattformarbeit berücksichtigt wird […].”

Aufschlussreich ist deshalb ein Blick in die Kriterien, anhand derer Weisung und Kontrolle am Arbeitsplatz definiert werden (§5). Hier zählt der Entwurf u. a. auf:

  • die effektive Bestimmung der Höhe der Vergütung oder die Festlegung von Obergrenzen der Vergütung;
  • die Bestimmung oder Kontrolle von Arbeitsbedingungen, Arbeitszeiten, Verfügbarkeiten und Abwesenheitszeiten;
  • die Überwachung der beschäftigten Person während der Arbeit, z. B. durch das Loggen von Aktivitäten am PC/Laptop/Smartphone;
  • Anforderungen an das Auftreten oder die äußere Erscheinung, z. B. das Tragen einer Uniform;
  • den Einsatz von Sanktionen, Anreiz- oder Bewertungssystemen bei der Auftragsvergabe;
  • die effektive Einschränkung der Möglichkeit, einen Kundenstamm bzw. einen direkten Kontakt mit möglichen Kund:innen aufzubauen, z. B. indem die Kommunikation zwischen der Plattformarbeit leistenden Person und Kund:innen überwacht oder unterbunden wird;
  • die Einschränkung, Aufträge an Dritte weiterzuvermitteln oder selbst für Dritte tätig zu werden.

Außerdem soll einbezogen werden, ob die für die Plattform tätige Person auch sonst eine selbstständige Tätigkeit ausübt, die der geleisteten Plattformarbeit entspricht (§ 5 Abs. 1b).

Wie betrifft das unsere Branche?

Der VGSD und andere Verbände sprechen von einer existenziellen Gefahr für Selbstständige und befürchten: Auf dieser Grundlage könne „fast jedes Online-Portal, jede Agentur, jeder Vermittler bis hin zu Marketingdienstleistern, über die Selbstständige Aufträge akquirieren, zur ‚digitalen Arbeitsplattform‘“ erklärt werden. Auch der BDÜ als Teil der Mittelstandsallianz des BVDM kommt zu dem Schluss, dass „jede[r] Auftraggeber, der das Internet zur Abstimmung mit Selbstständigen nutzt, zur Plattform erklärt“ zu werden droht. Das Übersetzerportal UEPO warnt sogar, „jede von Vorgesetzten per E-Mail verfasste Arbeitsanweisung“ könne aus einem Unternehmen bereits eine digitale Arbeitsplattform machen. Die Folge im schlimmsten Fall: Eine massenhafte automatische Reklassifizierung, die freiwillig Selbstständige ungewollt in Angestelltenverhältnisse zwingt.

Ver.di dagegen begrüßt den Entwurf dagegen ausdrücklich. Um zu verdeutlichen, zu welchen Verbesserungen die Richtlinie führen würde, schildert die Gewerkschaft, die inzwischen 30.000 Selbstständige vertritt, in einer Meldung von November 2022 beispielhaft die Situation eines Korrektors, der seine Aufträge über eine Plattform erhält und infolge längerer Krankheit so weit im unternehmensinternen Bewertungssystem abrutscht, dass ihm schlussendlich gar keine Aufträge mehr angeboten werden.

Anhand solcher konkreten Szenarien lässt sich präziser nachvollziehen, wo und wie die geplante Richtlinie in der Praxis greifen könnte. Diesen Ansatz fährt nun auch die schwedische Ratspräsidentschaft. Um die Auswirkungen der Richtlinie besser abschätzen zu können, rief sie laut euractiv im Februar 2023 dazu auf, den Entwurf anhand solcher Erfahrungen zu bewerten und allgemeine Befürchtungen außen vor zu lassen.

Auf Grundlage unseres derzeitigen Kenntnisstandes kommen wir zu dem Schluss: Mehr Sachlichkeit und ein aufmerksamerer Blick täten der Debatte tatsächlich gut. Vor dem Hintergrund des aktuellen Entwurfs sehen wir wenig Anlass zur Sorge vor einer massenhaften Reklassifizierung von Übersetzer:innen und Dolmetscher:innen, die ihr Einkommen als echte Selbstständige verdienen – einerseits. Anderseits ist uns noch nicht klar, was die Richtlinie für diejenigen Kolleg:innen bedeuten könnte, die mit Agenturen zusammenarbeiten, die auf stark automatisiertes oder algorithmisches Projektmanagement setzen oder die Zusammenarbeit unter arbeitnehmerähnlichen Bedingungen organisieren.

Worauf sollten freiberufliche Dolmetscher:innen und Übersetzer:innen achten?

Sieh dir die Kriterienliste genau an. Organisieren einige deiner Kunden (oder gar die Mehrzahl) die Auftragsvergabe nach solchen Kriterien? Nimm das kritisch unter die Lupe und teile deine Einschätzung mit uns, denn in der Regel fördern solche Vergabekriterien keine Vertragsgestaltung auf Augenhöhe. Falls einige dieser Kriterien zutreffen, könnten sie deine Freiheit einschränken, die Auftragsbedingungen selbst auszuhandeln – mit solcher Kundschaft wirst du zu einer relativ anonymen, austauschbaren „Ressource“.

Was tut der DVÜD für seine Mitglieder?

Um das Ringen um den Entwurf besser nachvollziehen zu können, hat Lyam Bittar als Präsident hinter den Kulissen bereits mehrere Schritte unternommen: 

  1. Bei einem Online-Treffen mit anderen deutschsprachigen Übersetzer- und Dolmetschverbänden wurden Einschätzungen zur Thematik ausgetauscht.
  2. Auf EU-Ebene hat Lyam von unserem Dachverband FIT Europe angefragt und unseren Schwesterverband in Spanien (ASETRAD; Asociación Española de Traductores, Correctores e Intérpretes) um eine Einschätzung gebeten, wie sich die Situation dort seit der Einführung des Rider-Gesetzes entwickelt hat.
  3. Er hat Fairwork kontaktiert, ein Forschungsprojekt, das jüngst eine global angelegte Studie zu Arbeitsbedingungen auf Übersetzungsplattformen veröffentlicht hat und die Entwicklung digitaler Arbeitsplattformen schon länger kritisch beobachtet.
  4. Dank Olga Kuzminykhs Vorarbeit steht Lyam in direktem Kontakt mit dem VGSD, den er ebenfalls nutzen möchte, um eine Position zur geplanten Richtlinie zu entwickeln.
  5. Um als Verband in den direkten Austausch mit Abgeordneten des Europaparlaments zu gehen, haben wir uns in das Transparenzregister der EU aufnehmen lassen.

Da die Umsetzung in nationales Recht strenger ausfallen kann als EU-weit, werden wir gemeinsam mit anderen Akteuren die politische Debatte im Auge behalten. Der DVÜD wird sich aktiv dafür einsetzen, die Gesetzgebung für die (auch technischen) Erfordernisse einer Tätigkeit als freiberuflichen Übersetzer:innen und Dolmetscher:innen zu sensibilisieren – damit uns keine gut gemeinten Steine in den Weg gelegt werden, die unsere Selbstständigkeit nicht sicherer machen, sondern nur holpriger.

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