Zum Abschluss der letzten Themenwoche 2020 diskutierten wir am 30. Oktober online und tauschten Ideen aus, die in verschiedenen Ländern derzeit erprobt oder aber favorisiert werden. Wir Übersetzer:innen haben jeweils nur einen winzigen Einblick, bewältigen aber immerhin den Spagat zwischen zwei oder mehr Kulturen und können so zum Austausch beitragen.

Frankreich: Collapsologie

In Frankreich befasst sich die spartenübergreifende Fachrichtung der Collapsologie mit der Untersuchung von Katastrophen – wie kommt es dazu, wie kann man darauf reagieren, wie kann man sie vielleicht auch verhindern? Das wegweisende Buch von Pablo Servigne und Raphaël Stevens ist bisher nicht in Deutsche übersetzt.

Eine interessante Auseinandersetzung mit der Kollapsologie findet sich in diesem Podcast von Florian Fricke. Im Einführungsartikel wird das Thema eher im Bereich Science Fiction verankert – der Podcast ist gehaltvoller als der Artikel, und der Autor ruft am Ende dazu auf, parallel zur Corona-Krise über eine resilientere Gesellschaftsform zu debattieren.

Im Rahmen der öffentlichen Diskurses spricht man weniger vom Klimawandel (eher der deutsche Begriff), sondern lieber von der Klimakatastrophe.

Einer der Ansätze, der in Frankreich erprobt wird, ist LiFi (Internet über LEDs) zur extrem schnellen energiesparenden Informationsübermittlung mit Lichtgeschwindigkeit (siehe Blogartikel von Ilse Arnauld des Lions vom 28.10.2020).

Italien: Stadtentwicklung

In vielen Städten Italiens, darunter beispielsweise Florenz, Pisa und Rom, sind verkehrsberuhigte Zonen (ZTL) längst üblich. So möchte man das Flanieren ermöglichen, was natürlich der Lust am Kaufen und Konsumieren zugute kommt, und die Lebensqualität der Anwohner erhöhen. Mailand geht mit dem Projekt City Life Milano einen Schritt weiter und errichtet auf einem ehemaligen Messegelände eine der größten autofreien Zonen Europas. Im Zuge des Lockdowns während der Pandemie wurden in Mailand zudem fahrradfreundliche Verkehrskonzepte erprobt, die – wie in Berlin, Paris und Rom – nun möglichst auf Dauer erhalten werden sollen.

Auch in Sachen Stadtbegrünung ist Mailand vielen anderen Städten in Europa einen großen Schritt voraus. Als Prestigeobjekt gelten die begrünten Zwillingstürme des Bosco Verticale („senkrechter Wald“). Dachwälder, welche die Städte durch Kühleffekt, Schadstoffbindung und Sauerstoffprodukten bewohnbarer machen sollen, gibt es in Mitteleuropa unter anderem auch in Darmstadt, Magdeburg oder Wien.

Singapur: Urbane Hitzeinseln entschärfen

Am Beispiel des Stadtstaats Singapur ist zu sehen, wie es gelingen kann, den Individualverkehr stark einzudämmen und dem gut ausgebauten öffentlichen Nahverkehr plus Taxis, Lieferverkehr, Bauwirtschaft und Handwerk Vorrang einzuräumen. Hierzu gehört im Konzept von Singapur auch die Stadtplanung. Durch fußläufige Erreichbarkeit von Einkaufszentren und Hawker Märkten, aktive Stadtbegrünung (im tropischen Singapur ein Kernelement der Stadtplanung) und zahlreiche Parks versucht man, aktiv der Ausprägung von innerstädtischen Hitzeinseln (Urban Heat Islands, UHI) entgegenzuwirken und die Stadt kühler zu gestalten – was wiederum den Energieverbrauch durch Klimaanlagen etwas mindert. Vielleicht könnten auch deutsche Großstädte einige der 86 Maßnahmen aus dem dort entwickelten Catalogue of Mitigation Strategies umsetzen? Das PDF ist hier hinterlegt.

Niederlande: Wasserstand

In den Niederlanden ist man sich deutlich bewusst, wie schnell der Bevölkerung das Wasser nicht nur im übertragenen Sinne bis zum Hals stehen kann. Daher setzt die Politik auf Deichbau und Wasserwirtschaft an der Küste und am Rhein.

Auch die Architektur kommt in Bewegung, zum Beispiel mit der Idee der Schwimmenden Städte des holländischen Architekten Koen Olthuis. Doch obwohl die Niederlande als Radfahrernation eigentlich Energiesparweltmeister sind, setzen sie bei der Wärmeerzeugung bisher intensiv auf Erdgas, was nicht unumstritten ist und dazu führt, dass der CO2-Ausstoß dort nur sehr langsam zurückgeht.

England: Eco Anxiety und Deep Adaptation

In England hat der Guardian im Mai 2019 seinen internen Style Guide angepasst. Statt von Klimawandel (climate change) oder globaler Erwärmung (global warming) ist – wissenschaftlich begründet – bevorzugt von Klimanotstand, Klimakrise oder Zusammenbruch des Klimas (climate emergency, climate crisis, climate breakdown) bzw. weltweitem Hitzeanstieg (global heating) die Rede. Damit folgt die Redaktion einer Veränderung der Ausdrucksweise bei Klimawissenschaftlern und Organisationen wie den Vereinten Nationen.

Der Style Guide des Guardian ist übrigens eine hervorragende Quelle, um modernes Vokabular korrekt einzuordnen und einzusetzen. Unter dem Buchstaben C ist auch ein ganzer Abschnitt zu „cliches“ zu finden – und ein Abschnitt zum Kommagebrauch.

Wie in den Niederlanden wissen die Behörden auch in England, dass bisherige Küstenschutzmaßnahmen auf lange Sicht nicht ausreichend Schutz vor steigenden Meeresspiegeln bieten werden (im verlinkten Artikel von 2018 ist das Jahr 2100 genannt).

Die daraus erwachsende Eco-Anxiety oder Environmental Anxiety erwächst aus der Erkenntnis, dass der tragische Zusammenbruch des Klimas (Climate Tragedy) mit seinen dramatischen Folgen bereits im Gang ist und unumkehrbar sein könnte. Beschrieben ist dieser Prozess in der in England verbreiteten Theorie der Deep Adaptation, die von dem Nachhaltigkeitsexperten Jem Bendell entwickelt wurde. Bendells Publikation ist in zahlreichen Sprachen (auch auf Deutsch in der Übersetzung von Carsten Zwolferschritte) als Download verfügbar; weitere Übersetzungen sind in Vorbereitung. Man kann sich auch noch den Teams anschließen.

Der Ansatz der Deep Adaptation ist keineswegs unumstritten – ähnlich wie bei der Kollapsologie gibt es Stimmen wie open Democracy, die davor warnen, dass eine allgemeine Weltuntergangsstimmung (doomism) uns daran hindern könnte, konsequent alle Stellschrauben gegen die Erderwärmung zu betätigen.

Aktive Auseinandersetzung mit der „Klimatrauer“

Wie in England steigt auch in den USA die Eco-Anxiety bzw. Environmental Anxiety, die Angst vor dem Zusammenbruch des Klimas. Die dramatischen Konsequenzen bedrohen insbesondere Küstenbewohner, aber auch Menschen, die von Waldbränden oder Dürren betroffen sind. Bei anderen, die weniger existenzielle Folgen erleben, ist sie verbunden mit einer tiefen Trauer um Artenverlust und den Verlust vertrauter Landschaften, sowie mit der Angst um die Zukunft unserer Kinder und Enkel. Dieser Hintergrund wird in Frankreich im Zusammenhang mit der Kollapsologie beschrieben. Die Reaktionen werden mittlerweile in der Fachrichtung Ecopsychology untersucht, weil der damit verbundene Stress psychisch stark belastend ist.

Dieses kurze Abschweifen vom Thema spiegelt den Diskussionsverlauf – es ist schwierig, sich konkret mit Lösungen der Energieversorgung jenseits der fossilen Energieträger zuzuwenden, wenn gleichzeitig Ängste und Emotionen im Zaum halten muss. Das kann uns international vernetzten, reiselustigen Übersetzer:innen und Dolmetscher:innen, die von Berufs wegen ständig ganz genau hinschauen, stärker an die Nieren gehen, als wir es uns gern eingestehen.

Deutschland: Ist das Gemeinwohl ökonomischer?

In Deutschland glauben viele Bürger:innen nicht mehr, dass Strom sparen und Mülltrennen ernsthaft reichen, um sich umweltfreundlich zu verhalten. Firmen und Kommunen ergreifen selbst die Initiative, um vielleicht doch noch das 1,5-Grad-Ziel erreichen zu können.

Laut einer Studie des Wuppertal Instituts von Oktober 2020 ist das nach wie vor möglich. Bei der Energieerzeugung sind genossenschaftliche Initiativen wie die Energiewerke Schönau oder Firmen wie die Hamburger Enyway im Kommen – vielleicht gibt es vergleichbare Modelle auch schon in deiner Nähe? Wir wussten spontan nicht, ob solche Initiativen auch in anderen europäischen Ländern vorhanden sind. Gibt es lokale Stromversorgungsgenossenschaften auch in Spanien, Italien oder Dänemark? Schreibt in die Kommentare!

Was der Einzelne (neben dem Übersetzen und Weitererzählen schlauer technischer Lösungen) gegen Eco-Anxiety noch tun kann:

  1. Gleichgesinnte finden und selbst aktiv werden, zum Beispiel über das deutsche Transition Netzwerk oder in anderen Initiativen
  2. Bei der Gemeinde die Erarbeitung eines Klimakatastrophenplan einfordern (oder daran mitarbeiten). Viele Gemeinden haben bereits eigenständig den Klimanotstand ausgerufen und suchen angestrengt nach Lösungen.
  3. Die Gemeinde zur Erstellung einer Gemeinwohlbilanz animieren (Link zu PDF)

Hintergründe zur Gemeinwohlbilanz hat Lyam Bittar im Mai 2020 im Rahmen der Themenwoche „Selbst & beständig“ in seinem Blogartikel erläutert.

Und weil Sprachmittler:innen keine hauptberuflichen Aktivisten sind, lautet ein Work-Life-Balance-Tipp: Nimm dir jeden Morgen abgegrenzte 15 Minuten Zeit, um das Thema, das dir am meisten auf den Nägeln brennt, etwas weiter voranzubringen. Ja, auch dies ist eine Abschweifung vom Thema. Aber Aktivwerden hilft, räumt den Kopf frei und trägt damit ernsthaft auch dazu bei, dass du besser und freier arbeiten kannst.

Ausblick

Geschafft. Praktisch alle Links aus der Diskussion sind in diesem Artikel verarbeitet, ein paar wurden noch ergänzt. Weitere Unterlagen werden in den nächsten Tagen ohne Wertung oder Empfehlung im Mitgliederbereich hinterlegt. Die zahlreichen, im Artikel verlinkten Einzelinitiativen und Hintergrundartikel seien bitte als Beispiele aus der Runde und Ansatz zu eigenen Recherchen einzuordnen.

Das Thema der sicheren, nachhaltigen Energieversorgung und der Energiewende ist mit medizinischen, psychologischen, städtebaulichen und architektonischen Lösungen eng verknüpft, auch mit elementaren gesellschaftspolitischen Fragen. Es geht weiter über Elektroautos hinaus und betrifft zahlreiche Lebensbereiche.

Du übersetzt oder dolmetschst im Bereich Energie, Energieversorgung oder Umwelt? Wir sind offen für deine Ideen für Blogartikel, Videos oder Networking-Events. Ob und wann dein Beitrag veröffentlicht werden kann, besprichst du bitte mit der Blogredaktion, das sind momentan Imke (imke@dvud.de) oder Alexandra (alexandra@dvud.de).

Durch die weitere Nutzung der Seite stimmst du der Verwendung von Cookies zu. Weitere Informationen

Die Cookie-Einstellungen auf dieser Website sind auf "Cookies zulassen" eingestellt, um das beste Surferlebnis zu ermöglichen. Wenn du diese Website ohne Änderung der Cookie-Einstellungen verwendest oder auf "Akzeptieren" klickst, erklärst du sich damit einverstanden.

Schließen