Die Bürokratie ist bewältigt, deine ersten Anzeigen und Profile sind im Netz – und Kunden fangen an, mit ersten Anfragen darauf zu reagieren. Ein tolles Gefühl, endlich geht es los! Dennoch lohnt es sich (für Berufseinsteiger genauso wie für alte Hasen), einen genauen Blick auf diese Anfragen zu werfen und sich nicht blind auf jeden Auftrag zu stürzen.

Arbeitskraft zu verschenken?

Leider wissen offenbar immer weniger Menschen und Agenturen zu schätzen, welche qualifizierte Arbeit Übersetzer*innen leisten. Dementsprechend fallen auch auf großen Plattformen die Ausschreibungen aus. Da wir keine Arbeitskraft zu verschenken haben, lohnt es sich hier, kurz zu überlegen, wie schnell Finger und Kopf arbeiten können, wenn sie mehr als einen kurzen Sprint hinlegen müssen. Das kann individuell sehr unterschiedlich sein und hängt auch vom Thema (Recherchezeit ist auch Arbeitszeit!) und von der technischen Ausrüstung ab. Probiert euch also aus – und rechnet hoch, zu welchem Honorar pro Stunde eine Anfrage führt. Wenn selbst die Würstchenbude um die Ecke effektiv besser zahlt, überlegt euch dreimal, ob ihr eure Arbeitskraft verschenken möchtet – zumal solche Honorare oft ein erster starker Hinweis darauf sind, wie die Auftraggeber auf eure Arbeit schauen.

Ein absoluter Extremfall aus meiner Praxis war eine Ausschreibung für ein historisches Buch, dessen etwa 200 Seiten ich für 50 € hätte übersetzen sollen. Hier war die Diskrepanz zwischen erwarteter Arbeit und angebotener Bezahlung so extrem (und gleichzeitig der Auftrag an sich so interessant), dass ich mir kurz Zeit genommen habe, um dem Auftraggeber zu erklären, was er mir gerade angeboten hat. Dazu habe ich ihm ein sinnvolles Gegenangebot gemacht. Die Reaktion war überaus positiv! Zwar war mein Angebot am Ende doch etwas zu teuer, aber mein Gegenüber hat mich erkennbar verstanden. Scheut also bei inhaltlich interessanten Ausschreibungen (besonders, wenn sie von Direktkunden stammen) nicht vor einer etwas ausführlicheren Antwort zurück.

Anfragen, die man nicht ablehnen kann?

Auch wenn offerierte Aufträge ungewöhnlich großzügig ausfallen, sollte man hellhörig werden – wenn Angebote zu gut sind, um wahr zu sein, sind sie am Ende oft einfach nicht wahr. Genauso wie bei ungewöhnlich günstigen Wohnungen in bester Innenstadtlage einer beliebten Großstadt sind auch bei besonders großzügig gestalteten Anfragen irgendwo Fallen versteckt. Wenn beispielsweise vor Beginn eine Zahlung verlangt wird, beispielsweise für eine Mitgliedschaft, hat man am Ende möglicherweise einen langen Text kostenlos für einen Betrüger übersetzt, der einfach nur die „Mitgliedsgebühr“ abgreifen wollte.

Es ist immer sinnvoll, ein wenig über den potenziellen Kunden zu recherchieren. Sollte der Interessent existieren (was nicht unbedingt gegeben ist), kann es sinnvoll sein, dort anzufragen, ob die Übersetzung tatsächlich ausgeschrieben wurde oder der Mensch, der sie ausgeschrieben hat, tatsächlich dort arbeitet. So können wir uns zum einen absichern – und zum anderen kann gegebenenfalls das Unternehmen, dessen Name missbraucht wurde, Maßnahmen gegen den Betrug ergreifen.

Wo wir schon bei Betrug sind: Seltsame Anfragen lassen sich im Grunde genauso erkennen wie Spam und Scam im E-Mail-Posteingang. Wenn die Anfrage vor Rechtschreibfehlern strotzt, die Grammatik bei Muttersprachlern rumpelt, der Stil in jedem Absatz wechselt und das Ganze insgesamt wirkt wie aus dem Google Translator kurz nach der Jahrtausendwende, ist wahrscheinlich Betrug am Werk. Ernsthafte Kunden, die ernsthafte Übersetzer*innen suchen, gestalten ihre Anschreiben seriös und nicht so, dass sie in jedem halbwegs sauber konfigurierten Spamfilter hängen bleiben.

Ich kann so nicht arbeiten!

Wenn die Ausschreibung oder Anfrage realistisch und echt ist, gilt es als nächstes, die Bedingungen zu prüfen. Hier geht es im Endeffekt darum, wie der Kunde seine Übersetzer*innen behandelt. Wie geht man dort mit Problemen um (wenn beispielsweise die fertig übersetzte XLIFF pünktlich zur Rückkonvertierung defekt ist), was passiert bei rechtzeitig angesprochenen Verzögerungen – und wie realistisch sind die Deadlines?

Auch hier ein Beispiel aus der Praxis: Ein faszinierendes und nachvollziehbar echtes Angebot einer überprüfbar echten Agentur für die Übersetzung eines sechsbändigen Hörbuch-Skripts. Ich hatte meine Einschätzung zum Umfang und zur Dauer des Projekts abgegeben und war zum Schluss gekommen, dass die Übersetzung aller sechs Bände etwa ein Jahr in Anspruch nehmen würde. Die Agentur wünschte nicht nur einen Mengenrabatt auf die ohnehin bereits magere Bezahlung, sondern erwartete die Lieferung aller sechs Bände innerhalb von sechs Monaten – nicht nur unrealistisch, sondern bei angemessener Qualität faktisch unmöglich. Um das Ganze abzurunden, wäre die Bezahlung bei der kleinsten Verzögerung um 30 % reduziert worden. Insgesamt also eine Anfrage, das die mangelnde Wertschätzung der Agentur für Übersetzer*innen zeigt. Zudem wurden meine Einwände übergangen, stattdessen kamen Schmeicheleien als Reaktion („der Kunde will unbedingt dich als Übersetzer“). Achtet also darauf, wie eure Kunden mit euch umgehen – am Ende lässt sich Lebensqualität nicht mit Geld aufwiegen.

Alles wunderbar – los geht’s!?

Text und Honorar passen, der Kunde ist seriös, die Bedingungen sind gut – herzlichen Glückwunsch! Dennoch bleiben geringe Restrisiken, die für Selbstständige einfach zum Berufsrisiko gehören. Es kann beispielsweise passieren, dass Kunden insolvent werden und schließen müssen, sodass am Ende ein fertiger Auftrag steht, der dennoch nicht bezahlt wird.

Allerdings lässt sich dieses Risiko mit den beschriebenen Methoden zumindest eindämmen – und auch mir selbst ist es in fünf Jahren genau einmal passiert. Der Auftrag hat alle beschriebenen Hürden souverän genommen, ich habe am Ende sogar meine Übersetzung auf der Website des Endkunden gefunden – doch die kleine norwegische Agentur, die mich beauftragt hat, musste nach der Lieferung wegen Insolvenz schließen, sodass ich leider nie etwas für den Auftrag erhalten habe. Aber wie gesagt, es war der einzige Auftrag in meiner gesamten Laufbahn als Übersetzer, der mich daran erinnert hat, dass wir immer auch ein unternehmerisches Risiko tragen – umso wichtiger ist es also, die vorherigen Punkte zu beherzigen, um genau dieses Risiko zu minimieren.

Heiko Pfeil hat sein Englischstudium um einen Abschluss als technischer Produktdesigner für Maschinen- und Anlagenkonstruktion ergänzt. Er übersetzt schwerpunktmäßig Englisch <> Deutsch im technischen Bereich. Seit 2018 unterstützt er den DVÜD als aktives Beiratsmitglied.

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